berliner szenen Schüchternes Tier

Wo der Pelz hängt

„Der Bär ist schüchtern“, wurde gewarnt. Aber das Vernissagenpublikum hört nicht. Kaum schiebt das Tier die erste Tatzenspitze in Sichtweite, stürzt alles zur Scheibe und drückt sich die Nase platt: „Och, ist der niedlich!“ „I love him!“ „Fantastic! He’s fantastic!“ Dem Bär wird’s naturgemäß bang – er verkriecht sich im hintersten Winkel.

Das bedeutet im Fall der Neuen Nationalgalerie ziemlich weit hinten. Zum Glück ist das Obergeschoss rundum verglast. Wenn man einmal ums Haus herumgegangen ist, hat sich der Bär allerdings schon längst wieder getrollt. Er wirft sich jetzt an anderer Stellen gegen die Scheibe, wo einige Zuschauer laut geklopft haben. „Sie müssen ihn anlocken“, sagt ein älterer Herr zu einem verzweifelten Fotografen und führt einen hampelmannartigen Tanz auf. Das Tier kommt auf die beiden zu, dreht dann aber ab. Der Fotograf hat sein Bild nicht im Kasten. „Der soll mal einen Purzelbaum machen“, fordert die Begleiterin. In der Tat wirkt der Bär etwas lahm: Das Fell hängt am Po, das Maul ist immer leicht geöffnet. Jetzt steht er einfach nur in der Galerie rum.

Vernissagenverhalten breitet sich aus: „Wir hatten eine Einladung zu einem Empfang, und jetzt kommen wir nicht in die Galerie rein“, klagen zwei Herrschaften in schicken Mänteln. „Da hinten an der Frittenbude gibt’s heute Glühwein umsonst“, hilft ein freundlicher Zuhörer aus. Der Bär hat sich derweil auf den Boden gelegt.

Der Glühwein hilft, um dem Aktionskünstler Mark Wallinger länger zuzuschauen, der eine Woche lang immer ab 22 Uhr im Bärenkostüm durch die Nationalgalerie tapst. Auch das Kostüm zieht gierige Blicke auf sich. Denn draußen in der Kälte fühlt man sich wie ein nackter Eisbär.

TIM ACKERMANN