Ungewohntes Terrain

Staunen über die Fremdheit des eigenen Körpers: In den „fabrikationen 04“ der Tanzfabrik Berlin stellen sich junge Choreografinnen vor

Ein seltener Anblick bot sich am Eröffnungsabend der Reihe „fabrikationen 04“ in der Tanzfabrik: Drei Männer zwischen 50 und 60 tanzten in „Featured“ tragisches Ballett zu Rachmaninow und ließen zu TripHop cool die Hüften schwingen. Kristyna Lhotáková hat den städtischen Angestellten Vojtech Gajda, den im Kultur- und Erziehungssektor tätigen Jaroslav Synek und den Geschäftsmann Eduart Cubr per Casting aus dem tristen Arbeits- und Arbeitslosenalltag Prags aufs Parkett geholt.

Mit stoischer Gewissenhaftigkeit folgten die Männer den Vorgaben der jungen Choreografin. Wunderschön und gleichzeitig von einer undurchdringlichen Strenge vereinigte Lhotáková in sich das Unterhaltungspotenzial einer Showmasterin mit der strengen Zucht einer sozialistischen Sportlehrerin. Mit „Featured“ eröffnete das Programm der „fabrikationen 04“, die mit Choreografien, Vokalperformances, Workshops, Work-in-progress und theoretischem Labor noch bis 31. Oktober auf den Hinterhof der Möckernstraße 68 einlädt. In lockerer Werkstattatmosphäre treffen Hobbytänzer, Profis und ein tanzbegeistertes Publikum aufeinander. Umkleidebänke, breite Spiegel und eine Kiste mit Fundsachen verstärken den Eindruck, dass Proben und Aufführung hier nahtlos ineinander übergehen.

Das Motto „Pathos und Emotion“ gilt zwar nur für einige ausgewählte Produktionen, aber wer sich einmal mit den Begriffen infiziert hat, findet ihre Spuren überall. Mag sein, dass diese Zuschreibungen aufs Ursächlichste mit dem Tanz verbunden sind. Doch ganz ohne Ironie geht es nicht. Die ernsthafte Haltung der drei Männer bekommt bei aller Bewunderung für ihr Talent und Durchhaltevermögen etwas anrührend Komisches. Dass sie als Tänzer auf ungewohntem Terrain stehen, ist nicht zu übersehen. Trister Alltag wird mit dem Pathos der großen Geste und des Traums aufgeladen.

Alltägliche Situationen und verborgene Sehnsüchte inspirierten auch die jungen Nachwuchschoreografinnen Anna Widmer und Tamara Brücken. In „so oder so“ gingen sie den Abhängigkeitsmechanismen und Glücksverheißungen der Werbeindustrie nach. Eine aus dem Off eingespielte Meditationsanleitung entpuppte sich dabei als eine Einladung zur allmählichen Auflösung des eigenen Körpers. Die beginnt harmlos. „Sie verspüren einen Krampf im Kiefer, der sich auf den ganzen Körper ausbreitet. Ein leichter Brechreiz überkommt Sie.“ Dazu bewegten sich „Brücken & Widmer“ im somnambulen Gleichklang oder erprobten Machtstrukturen, indem die eine als Spielzeug, Lust- und Hassobjekt der anderen fungierte.

Die Austauschbarkeit von Subjekt und Objekt, das Staunen über die Fremdheit des eigenen Körpers beschäftigten auch Zufit Simon in ihrer Körperstudie „fleischlos“. Jenseits einer augenscheinlichen message konzentrierte sie sich ganz auf ihren eigenen Körper, den sie in einem ständigen Wechselspiel entweder zu kontrollieren oder seinen intuitiven Reaktionen zu gehorchen schien. Zärtlich fließende Bewegungen stockten in epileptisch anmutenden Zuckungen und schmerzlich entstellenden Verrenkungen, unterstrichen von abrupt ein- und aussetzender Musik.

Herausragend war auch die Produktion „time“ der Koreanerin Hyoung Min Kim. Langsamkeit gebiert Hektik, die Stille ohrenbetäubenden Lärm. So machten die erste Abende der „fabrikationen 04“, die sich thematisch und sinnlich auf angenehme Art und Weise ergänzten, Lust auf mehr von den Kostproben junger Choreografen und Work-in-progress-Ausschnitten, die die Reihe fortsetzen. ASTRID HACKEL

Bis 31. Oktober, Tanzfabrik Berlin, Möckernstraße 68