Mit Pauken und Prothesen

Samba die ganze Nacht: Das Theater Thikwà macht aus Handicaps Stilmittel. Indem es die Grenze zwischen Kunst und direkter Äußerung verwischt, bringt es die Deutungsmuster durcheinander

VON CHRISTIAN BERNDT

Die Choreografie wird immer absurder. Zur Samba-Musik wird mit allem getanzt, was sich findet zur Fortbewegung: Krücken, Rollstuhl und High Heels. An jeder Ecke dreht und bewegt sich was, bis das Auge kaum noch weiß, wohin es schauen soll – ein Finale, so unübersichtlich und chaotisch wie die Muppets-Show. Stützwagen und Samba bringt das Theater Thikwà in eine eigenartige Choreografie, in der die Grenzen zwischen dem, was man einmal für authentisch und dann wieder für künstlich hält, völlig verwischen.

In dieser Grauzone ist das Theater Thikwà zu Hause. „Blut ist im Schuh“ ist eine der neueren Produktionen des Ensembles, das sich aus behinderten und nichtbehinderten Schauspielern zusammensetzt. Einerseits sind in der Inszenierung von Gerd Hartmann die Behinderungen der Darsteller ganz bewusst als Hindernisse von Bewegungsabläufen vorgeführt – man sieht zwei Frauen, die sich auf einem Rollstuhl abmühen, um gemeinsam vorwärts zu kommen. Andererseits verlieren sie, in andere Zusammenhänge gestellt, ihre Eindeutigkeit als Bewegungshemmer und gewinnen eine ganz eigene ästhetische Kraft. Wenn in einer Szene ein Darsteller mit Down-Syndrom mit nacktem Körper asiatische Kampfkunstübungen vollzieht, während ein anderer ihm Prothesen überstülpt, werden die vermeintlichen Gehhilfen zur Belastung.

Das Theater Thikwà hat als einziges der Theater in Deutschland, die mit behinderten Darstellern arbeiten, fest angestellte Schauspieler. Es geht nicht um Beschäftigungstherapie, sondern darum, als Schauspieler zu arbeiten und Geld zu verdienen. In der Thikwà-Werkstatt werden die Mitglieder in Schauspiel, künstlerischem Handwerk und Atelierarbeit ausgebildet. Die Professionalisierung macht den entscheidenden Unterschied zu Produktionen aus, wie sie etwa Christoph Schlingensief an der Volksbühne mit behinderten Darstellern inszeniert. Schlingensief will auf der Bühne gerade keine Schauspielkunst zeigen, sondern den Blick der Gesellschaft auf das lenken, was er als einen authentischen Ausdruck versteht. Deswegen muss es in seinen Produktionen besonders schräg zugehen, denn was geübt ist, gilt nicht mehr als echt.

Das Theater Thikwà geht umgekehrt vor. Zwar ist es auch hier ein Ziel, für behinderte Menschen einen Platz im öffentlichen Raum sichtbar zu machen, wie es Thikwà mit dem Projekt „Stadtspuren – Ortungen“ verfolgt. Aber wenn das Ensemble szenische Arbeiten in Straßenbahnen und U-Bahnhöfen zeigt, werden nicht authentische Ausdrucksformen vorgeführt, sondern Bilder performt, die Behinderungen wie eine spastische Armhaltung als Stilmittel für choreografierte Figuren umsetzen. In den Texten von Thikwà-Darstellern wird diese Entwicklung einer ganz eigenen Ästhetik besonders plastisch. Ganz direkte Gefühlsaußerungen finden sich wie in Peter Pankows Texten in dadaistisch klingende Satzmuster gepackt, aus denen wiederum völlig neue Sinnzusammenhänge entstehen. Diese verräterische Sprachlogik hat auch die Schauspieler vom Theater zum westlichen Stadthirschen, Silvina Buchbauer und Dominik Bender, die mit dem Theater Thikwà eine Produktion für 2005 vorbereiten, so beeindruckt, dass sie aus den Gesprächen mit den Kollegen eine eigene Textcollage machten: „Das Zarte wird ja immer überdroht“ ist seit gestern im Tacheles zu sehen.

Die Spannung zwischen Kunstcharakter und direkter Äußerung bei Thikwà bringt die Deutungsmuster immer wieder durcheinander. Sieht man etwa Torsten Holzapfel als Bänkelsänger mit Pauken und Trompeten durchs ICC schwirren, weiß man nicht, ob man einer Trash-Performance à la Schlingensief beiwohnt oder alles ernst gemeint ist. Dann wieder versteht es Holzapfel in einer Thikwà-Varietéshow so gekonnt, Walter Ulbricht zu parodieren, dass man rätselt, ob die gesamte Figur, die er vorstellt, nur Kunstprodukt ist.

Auch für die Darsteller ist die Verbindung von Kunst und Leben nicht immer einfach – bei den Proben zum Stück „Sehnsucht 420“ will sich der Darsteller des Kommissars nicht erschießen lassen, weil es sein Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Die persönlichen Schwierigkeiten innerhalb der Gruppe führen mitunter zu existenziellen Krisen. Die Proben- und Bühnenerfahrungen sind für die Darsteller immer auch Auseinandersetzungen mit der eigenen Persönlichkeit, die bis an die Substanz gehen können. Manchmal auch mit erstaunlichem Erfolg, wenn etwa der fast stumme Torsten Eisermann wieder zu sprechen begann, als er in „Sehnsucht 420“ in eine Frauenrolle schlüpfte.

„Das Zarte wird ja immer überdroht“. 16., 17. und 28.–31. Oktober im Tacheles, 20.00 Uhr. Nächste Auftritte von Thikwà 5. u. 7. November in der Tanzfabrik, 15. November im HAU.