„Sehen Se, der Prinz, det bin icke“

Der älteste Berliner Theaterverein „Gut Freund 1893“ begeht heute mit einer neuen Aufführung seinen 111. Geburtstag. Der Verein ist eine urbane Ersatzfamilie für 30 Leute. Obwohl alt, ist er auf diese Weise doch wieder ganz modern auf der Bühne

VON WALTRAUD SCHWAB

Familie! Es ist Familie! Alle bestätigen es. „Man ist da reingewachsen. Schon als Kind“, sagt Manuela Kloß. Seit 35 Jahren gehört sie zum ältesten Berliner Theaterverein „Gut Freund 1893“. „Meine Tante hat mich mitgeschleppt. Zuerst war ich bei der Kindertanzgruppe. Wir machen so viel zusammen“, meint Kloß. Justizangestellte ist sie. Ihre 7-Jährige ist auch schon bei Gut Freund dabei. Im neuen Stück, das heute aufgeführt wird, spielt Kloß eine englische Königin, die etwas verschlafen daherkommt, am Ende aber Charakter zeigt.

„Das Glas Wasser“ heißt die Komödie von Eugéne Scribe in der Bearbeitung von Helmut Käutner. „Käutner“, wiederholt die stellvertretende Geschäftsführerin und Bühnenmalerin Helga Bröcker scharf und nickt dazu und hofft, dass alle anderen auch nicken. Sie will, dass verstanden wird: Wer etwas von so einem bedeutenden Mann spielt, ist selber wichtig. „Mir ist aufgefallen, dass das Stück gegen Krieg ist, und dass es fast zu heute passt“, sagt einer der Schauspieler. Bis zur letzten Sekunde ist die Truppe beim Üben. In der Aula der Rehberge-Grundschule im Wedding. Schließlich ist Gut Freund 1893 immer eine Weddinger Angelegenheit gewesen, selbst wenn die 30 Aktiven zwischen 6 und 76 Jahren mittlerweile über ganz Berlin verstreut sind. Jubiläumsstück zum hundertelften Geburtstag soll „Das Glas Wasser“ werden.

„Schnapszahl, dachte ich, das muss gefeiert werden“, sagt Bröcker, die früher Wirtschafterin in einer Bibliothek war und jetzt „uff Pension“ ist.

Die Aula verzichtet auf jeden Prunk. Wer die Tür aufmacht, steht schon im Saal. Holzbänke vor einem mit blassblauen Vorhängen verzierten Auditorium gibt es hier. Mehr nicht. Von den Wänden splittert die Farbe. Aber die Umstände sind egal; das Herz, um das es geht, liegt auf der Bühne. Da oben stehen die Akteure eine Woche vor der Aufführung noch in ihren Straßenklamotten. Kostüme werden erst auf die letzte Sekunde geliehen. „Das geht ja alles ins Geld“, weiß Bröcker. Bühnenbild und Requisiten fehlen ebenfalls.

Obwohl schon gemalt, stehen sie noch im Keller. Derzeit markieren nur Stühle die Türen, durch die die Darsteller den Schauplatz betreten. Mario Gaede etwa, er spielt den Viscount of Bolingbloake, den guten Intriganten. Auf der Bühne zu stehen sei für ihn ein unvergleichlicher Kick. „Jeden Tag übe ich zwei Stunden vor dem Spiegel“, sagt der Mann, der im Zivilberuf sonst als Polizist mit Gefahrguttransporten zu tun hat. „Radioaktives, Chemisches, Sprengstoff und so.“

Damit muss es zusammenhängen, dass er bei jedem Satz die Pointe mit ausgestrecktem Zeigefinger unterstreicht. „Das hab ich mir noch nicht abgewöhnen können.“

Für den Kick übt er ein Vierteljahr, um das Stück dann genau zweimal aufführen zu dürfen. Großer Einsatz für ein wenig Glück. Das gilt für all die anderen auch. Die Familie Tetzlaff etwa, die fast komplett eingespannt ist. Die Mutter, Buchhalterin von Beruf, spielt die böse Intrigantin. Der Vater, seit 41 Jahren bei Gut Freund dabei, ist Statist, Bühnenmaler und Spielleiter.

Die Tochter, im Verein groß geworden und seit ihrem Abitur auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz zuerst als Bühnenmalerin, jetzt als Friseurin, um über diesen Umweg doch noch Maskenbildnerin zu werden, spielt Abigail, die Vertraute der Königin. Sie ist, wie alle anderen Damen auch, in den Fähnrich der Garde verliebt. Olaf Hellmund heißt der und ist in Wirklichkeit Obsthändler.

Für die beiden gibt’s ein Happy End und das entspricht etwa dem realen Leben: „Die Kleene und er, die haben sich uff de Bühne kennen jelernt und jetzt sind se zusammen“, sagt Bröcker. Ihre Augen glänzen, weil es eine Familienangelegenheit ist, die sie alle angeht.

Außer dem jährlichen Theaterstück hat Gut Freund noch viel leichte Muse im Programm. Alt-Berliner Schmankerln, die „Omas neue Kleider“ heißen oder „Schwoof uff’n Hof“ oder „Der Berliner liebt Musike“. Da wird getanzt und gesungen. „Wir lieben alle so ein bisschen Berlin“, meint Bröcker.

Auch beim Karneval macht Gut Freund seit den 60er-Jahren mit. „Sehen Sie, der Prinz, det bin icke.“ Bröcker zeigt auf einem Foto auf einen perfekt gestylten närrischen Lebemann.

Ungefähr 30 Aufführungen im Jahr legt Gut Freund hin. Die meisten finden in Altenheimen und Seniorenfreizeitstätten statt. Es sind Kompensationsgeschäfte: Aufführung gegen Probenraum, Aufführung gegen Leihgebühr von irgendwas, was grade gebraucht wird. Findig und fündig ist man allemal. „Und man hilft sich. Ist doch klar.“

Neue urbane Ersatzfamilien, in denen nicht mehr Blutsverwandtschaft, sondern Seelenverwandtschaft bindet, ist ein modernes Thema. Gut Freund macht das seit 111 Jahren vor. Single-Dasein und Individualisierungshype treffen hier auf Gemeinsinn.

„Wir sind wie ein altes Ehepaar. Wie ein rechter Socken und ein linker Socken.“ Manuela Kloß zählt auf, was sie alles zusammen erleben: Gartenfeste, Lampenfieber, gemeinsame Reisen, Applaus – und in den letzen vier Wochen auch viel Abschied. Drei der Truppe sind verstorben. Alles Frauen. Die Älteste war über 90. Die Jüngste 45. „Ist es nicht schade um die Angelika. Die hatte einen Hirntumor.“ Bröcker zeigt auf eine junge Frau. Vor aufgemaltem Brandenburger Tor lacht sie im Dienstmädchenlook der 20er-Jahre in die Kamera. Lebensfreude festgehalten fürs Familienalbum.

Heute um 19 Uhr und Sonntag um 15 Uhr im Festsaal der Rehberge-Grundschule, Guineastr. 17/18, Eintritt: 8 €, erm. 5,50 €. www.gut-freund-1893.de