Volksmassen gesucht

Kurz vor der Demo gegen Sozialkahlschlag diskutiert ein Bürgerkonvent Alternativen zur Agenda 2010, verstrickt sich in der Masse der Probleme und fragt sich, wo die kritischen Massen bleiben

von ANNA LEHMANN

„Wer Hartz sät, wird Hass ernten“, begrüßt ein markiges Transparent die Besucher des 1. BürgerInnen- und Sozialkonvents am Donnerstagabend in der Humboldt-Universität. Ungerührt liebenswürdig empfängt der ehemalige Rektor der HU, Heinrich Fink, jeden mit „Schön, dass du da bist“. Man könne hier alle einzeln begrüßen, murmelt Fink.

Der Bürgerkonvent, namentlich an die Volksvertretung während der Französischen Revolution angelehnt, ist eine kleine Runde bekannter Persönlichkeiten und einer Hand voll Bürgern. Peter Grottian, basisnaher FU-Professor, Michael Opielka, Autor von Pflichtlektüre fürs sozialwissenschaftliche Studium, und Gabi Zimmer, Ex-PDS-Vorsitzende, sind als Podiumsgäste dabei. Gregor Gysi, Heiner Geißler und Norbert Blüm lassen sich entschuldigen. Die erhofften Volksmassen fehlen ohne Erklärung. Kritik an der Organisation erstickt Initiator Ronald Blaschke im Keim. Nicht die Mobilisierung sei fehlerbehaftet, sondern die Gesellschaft. Diese zu verbessern ist denn auch Anliegen des Konvents. Man will nach Problemen fragen und Lösungen suchen. Der Konvent soll ein Angebot zum Nachdenken, Mitmachen und Diskutieren sein. Allein die Probleme – eine Fülle von -ungs, wie Globalisierung, Privatisierung, Militarisierung – sprengen den Umfang der siebenstündigen Volksversammlung. Die Diskussion bleibt erst recht auf der Strecke, weil die Gesprächsleitung Bemerkungen aus den Rängen zugunsten eigener Statements rigoros einschränkt.

Peter Grottian, der den Ersten Mai gewaltlos machen und die Berliner Bankgesellschaft auflösen lassen will, skizziert, wie 2 Millionen Arbeitslose wieder berufstätig werden könnten. Der Staat zahlt ihnen einen Blankolohn. Damit sucht sich jeder selbstbestimmt eine Beschäftigung. Das koste etwa 30 Milliarden – ein schnelles und preisgünstiges Mittel, um Jugendclubs wieder zu eröffnen und verödete Städte zu beleben, meint Grottian. Die Frage, was mit den restlichen 2,5 Arbeitslosen sei, lässt er als Totschlagargument nicht gelten.

Ronald Blaschke, der sich als Erwerbsloser vorstellt, pickt sich das Wort „selbstbestimmt“ heraus. Arbeit sollte in erster Linie selbstbestimmte Arbeit sein, sagt er und outet sich als André Gorz-Anhänger. Der in Frankreich lebende linke Intellektuelle plädiert in zahlreichen Veröffentlichungen für radikale Arbeitszeitverkürzungen, eine öffentliche Existenzsicherung und einen Arbeitsbegriff, der nicht nur Erwerbsarbeit beinhaltet. Seine Forderungen sind auch in den PDS-Gegenentwurf zur Agenda 2010, die „Agenda Sozial“ eingeflossen, stellt Gabi Zimmer klar. Ein Grundeinkommen will auch Michael Opielka verteilen, aber nur an Arme.

„Das hört sich ja alles ganz hibsch an“, meldet sich ein Rentner zu Wort, „aber wie wollt ihr denn das Vertrauen der Leute gewinnen?“ Zimmer setzt auf glaubwürdige Politiker, andere erwarten von denen da oben gar nichts mehr und hoffen auf die Macht der Straße. Eine weißhaarige Friedensaktivistin will Zorn säen und wird prompt von einem Mittfünfziger beschuldigt, keine Ahnung zu haben. Der Zorn existiere längst, es gebe nur keine Bewegung. Man warte auf ein Signal. „Wir müssen selbst aktiv werden“, stellt eine untersetzte Frau fest: „Wir müssen mehr werden.“ Jörg Huffschmid, Wirtschaftswissenschaftler aus Bremen, geht mit Kant: „Aufklärung ist entscheidend. Unsere Demo sollte aufklärenden Charakter haben.“ Der Konvent unterstützt die heutige Demonstration.