Jetzt geht es erst richtig los

Verfassungsgericht urteilt: Der aktuelle Haushalt ist verfassungswidrig. Senat sieht das aber nicht als Niederlage. Im Gegenteil: Der Sparzwang sei deutlich geworden. Strieder: Opposition ist schuld

von ROBIN ALEXANDER
und RICHARD ROTHER

Viele öffentliche Einrichtungen werden in Zukunft noch stärker unter Sparzwang stehen. „Das Urteil des Verfassungsgerichts setzt dem, was ein Land in extremer Haushaltsnotlage leisten kann, enge Grenzen“, erklärte Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD): Die Sparpolitik müsse also noch konsequenter werden.

Das Landesverfassungsgericht machte gestern Morgen seine Entscheidung öffentlich, der Doppelhaushalt 2002/2003 sei verfassungswidrig. Hauptgrund: Die Höhe der neu aufgenommenen Schulden übersteigt die Investitionsausgaben. Der Senat habe eine Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts nicht hinreichend dargelegt, und auch nicht, dass die erhöhte Kreditaufnahme zur Abwehr einer solchen Störung „bestimmt und geeignet“ sei. Insbesondere fehlten Darlegungen, wie durch die erhöhte Kreditaufnahme arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen ermöglicht werden sollen.

Das Gericht anerkannte allerdings, dass eine solche Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin zu konstatieren ist. Das Gericht kritisierte darüber hinaus handwerkliche Mängel im Gesetzgebungsverfahren. Es sei nicht Aufgabe des Gerichtes, „bruchstückhafte Begründungselemente einzelner Abgeordneter in Erahnung eines eventuellen gesetzgeberischen Willens zu einer Argumentationskette zusammenzusetzen“.

Gleichzeitig entwickelte das Berliner Verfassungsgericht die Rechtsprechung fort: Ein überschreiten der Kreditobergrenze sei auch dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn sich ein Bundesland in einer extremen Haushaltsnotlage befindet. In einem solchen Fall müssten der Bund und die anderen Bundesländer dem hilfebedürftigen Land beistehen, damit es seinen staatlichen Verpflichtungen nachkommen könne.

In diesem Punkt unterstützt das Gericht also ausdrücklich die Linie des Senats, der vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zusätzliche Hilfen wegen der extremen Haushatlsnotlage einklagt. Finanzsenator Sarrazin sprach vor Journalisten gar von einem „Rechtsanspruch auf Bundeshilfe“.

Den laufenden Haushalt erklärte das Gericht allerdings mit Verkündung des Urteils für nichtig und damit unwirksam. Für die Vergangenheit gilt: Der Haushalt war zwar verfassungswidrig, bleibt aber wirksam, da eine Rückabwicklung nicht sinnvoll erscheint. Entgegen ersten Meldungen verhängte der Senat keine Haushaltssperre. Diese trete vielmehr automatisch „qua Verfassung“ in Kraft, wie der Regierende Bürgermeister betonte. Ab Montag bis zum Jahresende wird es keine Neueinstellungen im öffentlichen Dienst geben, es sei denn, der Genehmigungsvorgang ist bereits abgeschlossen. Dies trifft bei den 388 zusätzlichen Kita-Stellen zu, die im Rahmen des Tarifabschlusses entstehen sollten.

Die Spitzen der rot-roten Koaliton kündigten eine Verschärfung der Sparpolitik an. „Die Zeit ist vorbei, wo man in parlamentarische Spielchen Sparmaßnahmen ablehnen konnte, ohne Alternativen vorzuschlagen“, erklärte Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS). Der SPD-Vorsitzende Peter Strieder meinte gar: „Die Sparpolitik muss nach diesem Urteil drastisch verschärft werden.“ Die Opposition habe mit hrer Klage die Möglichkeit verbaut, den „mittelfristig angelegten Weg der spürbaren, aber trotzdem sozial ausgewogenen Sparpolitik fortzusetzen“. Sarrazin erklärte: „Diejenigen, die jetzt noch mehr Geld wollen, haben es schwerer.“

Die Oppositionsfraktionen von CDU, FDP und Grünen, die die Verfassungsklage eingereicht hatten, sahen sich gestern durch das Urteil bestätigt. Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann und CDU-Fraktionschef Nicolas Zimmer sprachen von einer „schallenden Ohrfeige“ für den Senat. FDP-Fraktionschef Martin Lindner forderte, die laufenden Beratungen für den Haushalt 2004/2005 zu unterbrechen. Sarrazin erklärte, der Senat könne eine Notwendigkeit dafür nicht erkennen.