This is the Endreim

65 Jahre Horst Tomayer sind nicht genug. Verneigung vor dem Mann, der für uns alle das Kreuz getragen hat

Mitte der 90er-Jahre irrt, verfolgt von Fernsehkameras, ein grauhaariger, gebeugter Mann durch die Hamburger Innenstadt. Er trägt ein riesiges Holzkreuz über der Schulter, an dessen Spitze nicht INRI, sondern IKEA zu lesen ist. Die Leute – es ist gerade evangelischer Kirchentag –, anstatt ihm für ein Stück des Weges beim Tragen des Kreuzes behilflich zu sein, schütteln den Kopf. Nur ein Bundeswehrsoldat erbarmt sich und nimmt das Kreuz mit den Worten: „Wir Soldaten tragen eine besondere Verantwortung. Denn wir Soldaten haben dich“ – und er blickt dem Schmerzensmann ins Gesicht – „ans Kreuz geschlagen.“ Nanu? Die Bundeswehr, schon damals im Auslandseinsatz? Bot Volker Rühe Pilatus humanitäre Hilfe an?

Fragen, die in dem wunderbaren kleinen Film, den Michael Hoeft und Fritz Tietz für das TV-Satiremagazin „extra3“ gedreht haben, offen bleiben. Der Mann am Kreuz: Horst Tomayer. Der Mann, der der Nation ungefragt eine behutsam aktualisierte Textfassung ihrer Hymne offerierte: „Schleimigkeit und Frust und bleifrei / Für das deutsche Tartanland“. Der Mann, der mit dem „Lied vom Leihmütterlein“ („Wenn ich einmal groß bin nehm ich / Einen Kleinkredit-t-t / Auf und zahl dich für die Schwangerschaft aus / Dann sind wir quitt-t-t“) den deutschen Ethikrat ratlos machte und dessen „35-Stunden-Lied der deutschen Rüstungsarbeiter“ („Dafür haben unsere Väter / Nicht gelitten noch gekämpft / Dass man unsre Forderungen / Wie die Pellkartoffeln dämpft // O Haupt voll Blut und Wunden / 35 Stunden / Sind genug“) die Gewerkschaftsbewegung kurzzeitig erstarren ließ. Der Mann, der heute in passabler Stille und perfekter Abgeschiedenheit seinen 65. Geburtstag absolviert.

Berühmt wurde Tomayer aber weder für seine antihermetische, immer tagesaktuelle Lyrik, zuletzt in dem Band „German Poems“ (Nautilus, neuerdings by 2001) gesammelt, noch für seine über 1.000 Radio-Kommentare, nicht für seine komischen Rollen in den Otto-und-Blumenberg-Filmen, nicht für sein monatlich in der Zeitschrift Konkret erscheinendes „ehrliches Tagebuch“, nicht für die „Deutschen Gespräche“ (soziologische Studien per Telefonat, dabei u. a. eine von ihm alias Luis Trenker geführte Unterhaltung mit Ernst Jünger), nicht für die Texte, die er Wolfgang Neuss eingab, und auch nicht für seine Pflastermalerei Anfang der 60er-Jahre auf dem Ku’damm – sondern berühmt wurde Horst Tomayer sicherheitshalber überhaupt nicht, sei es der Seifigkeiten, Seichtigkeiten des Kulturbetriebs wegen, die ihm eben nicht so liegen, sei es, weil er zu tun hatte oder nichts damit zu tun haben wollte.

Es ist schon eine sehr schrullige Idee dieser Zeit, dass der singulare Solitär, der heute Gedichte zu schreiben vermag, denen man anmerkt, dass sie von heute sind, abseits von Eden agiert. Ein Lamento darüber kann aber unterbleiben. Wie jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, muss es auch mit den Dichtern klar- und zurechtkommen, die es lieb hat oder nicht.

Horst Tomayer in kurzen Hosen, das Rad mit einer Hand schiebend, bei der Nobelpreisverleihung? Mit einer Dose Franziskaner Hell dem schwedischen Königspaar zuprostend und sein ergreifendes Mahn- und Warngedicht „SOS Fellatio“ deklamierend? Das ist, leider, um nichts als ehrlich zu sein, zu schön, als dass die Wirklichkeit ein Anrecht darauf hätte.

RAYK WIELAND