Lautlose Revolution

Der Internet-Buchhändler Amazon hat sein komplettes Sortiment durchsuchbar gemacht – 33 Millionen Seiten sind schon online

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Die amerikanische Internet-Zeitschrift Wired nennt es schon die „Bibliothek von Amazonia“ in Anspielung auf die legendäre Bücherei von Alexandria, die 641 nach Christus bei einem Feuer zerstört worden sein soll. Der Netz-Buchversand Amazon bietet auf seiner Website seit letzter Woche die Möglichkeit, ganze Bücher nach Stichworten zu durchsuchen – nicht nur die Buchtitel, nicht Genrebezeichnungen oder Schlagworte, sondern jedes Wort im Volltext des Buchs! „Search inside the book“ heißt das Angebot.

120.000 Bücher – die Ausstattung eines mittelgroßen Buchladens – beziehungsweise 33 Millionen Seiten sind bereits online zu finden, bisher allerdings nur auf der amerikanischen Website des Versands. Zügig sollen nun weitere Veröffentlichungen hinzukommen, bis das Sortiment des Buchversands komplett durchsucht werden kann. Wer ein Wort gefunden hat, kann auch gleich die Seite ansehen, auf der das Wort zu finden ist und zwei Seiten vorwärts und zwei zurückblättern.

Und weil auf 33 Millionen Seiten eine ganze Menge Worte stehen, bekommt man auch mit abseitigen Suchbegriffen interessante Resultate. Selbst ein „Vanity Search“ mit dem eigenen Namen – bekanntlich der häufigste Suchbegriff bei Google – bringt Ergebnisse: Der Name Tilman Baumgärtel erscheint in den Fußnoten von zwei Büchern über Medienkunst. Mit dem Stichwort „Village People“ findet man nicht nur eine Sammlung von Büchern über Leute in Dörfern, sondern auch einige Bücher über Disco, Funk und schwule Kultur. Und, wie praktisch, nur noch wenige Mausklicks trennen einen dann davon, das Buch zu bestellen. „Das ist kein E-Buch-Projekt“, sagt der Informatiker Udi Manber, der das Projekt für Amazon entwickelt hat. „Wir wollen richtige Bücher verkaufen, keine Dateien.“

So hat Amazon ganz nebenher etwas geschaffen, was bisher die Domäne von schlechtbezahlten wissenschaftlichen Mitarbeitern an Universitäten gewesen ist: eine Konkordanz, allerdings nicht eine, die die gesammelten Werke von einem Literaten nach Vokabular ordnet, sondern ganz automatisch eine mittelgroße Bibliothek aus Sachbüchern und Belletristik. Das macht der Konzern freilich nicht aus Liebe zur Literatur: mit der neuen Stichwort-Suche, so hofft Amazon-Gründer Jeff Bezos, kann man die Kunden für Bücher interessieren, auf die sie sonst gar nicht aufmerksam geworden wären.

„Wir wollen den Leuten helfen, Bücher zu finden, nicht, eine neue Informationsquelle zu schaffen“, sagt Bezos. „Unser Ziel ist es, mehr Bücher zu verkaufen!“ Dafür war eine Menge Arbeit notwendig: zwar werden die meisten Bücher heute auf Computern geschrieben, per Computern gesetzt und mit Digitaldruckern gedruckt, trotzdem liegen sie selten in digitaler Form vor. Amazon hat darum einen Teil der Bücher in Scanning-Centern in Niedriglohn-Ländern wie Indien, die Philippinen, wieder in digitales Format bringen lassen. Da die Bücher dort automatisch gescannt werden, kostet das weniger als einen Dollar. Aufwändiger gestaltete Bücher müssen zum Teil Seite für Seite per Hand auf den Scanner gelegt werden.

Schon mehren sich die Stimmen, die befürchten, dass Amazon seine marktbeherrschende Position ausnutzt und nun eine Art „Google für gedruckte Bücher“ werden könnte, wie es der amerikanische Verleger von Computerbüchern Tim O’Reilly ausdrückt. Auch die amerikanische Authors Guild warnt vor Urheberrechtsverletzungen.

Sehr wohl nämlich kann man mehr als 20 Seiten aus einem Buch einsehen und ausdrucken. Allerdings schränkt die Authors Guild ein: „Für die Belletristik geht wohl keine Gefahr aus.“