: Im Käfig des Löwen
Die Regie stimulieren, den Schock verlängern: darin bestand für den Filmkritiker und Filmtheoretiker André Bazin die Aufgabe der Filmkritik. Die Édition definitive seiner Texte, „Was ist Film?“, liegt nun erstmals komplett auf Deutsch vor. Im Mittelpunkt: die Grundidee der filmischen Objektivität
VON JÖRG BECKER
Schon zu Stummfilmzeiten schien alles gesagt über den Film: Seine Technik, sein Material, seine Methoden waren so ausgiebig erforscht wie der Otto-Motor. Mit dem Tonfilm etablierte sich eine Hand voll Filmgenres, über die Hollywoods Industrie ihre Hegemonie auf dem Weltmarkt durchsetzte. André Bazin (1918–1958) begleitete mit seinen filmkritischen und -theoretischen Arbeiten die Konjunktur des einsetzenden Nachkriegsrealismus im europäischen Kino bis zum Vorabend der Nouvelle Vague, mit der Regie-Autoren-Kritiker wie Truffaut, Godard, Chabrol eine radikalere „Politik der Autoren“ durchsetzten. Für Bazin, den „Literaten des Kinos“, wie ihn François Truffaut nannte, bestand die Aufgabe der Filmkritik in erster Linie darin, die Regie zu stimulieren und den Schock, den ein Film auszulösen vermag, zu verlängern. In den Achtzigerjahren geriet Bazins Oeuvre durch die zwei Bände von Gilles Deleuzes „Cinéma“ („Bewegungs-Bild und Zeit-Bild“, 1983/85) etwas in den Hintergrund, obgleich es auf dessen Kategorien von Wirklichkeit und Dauer von Einfluss war.
Fast 30 Jahre nach der französischen Originalausgabe liegt nun die édition definitive erstmals vollständig in deutscher Übersetzung vor – eine komprimierte Sammlung von fast 30 Aufsätzen aus den ursprünglich erschienenen vier Einzelbänden: zunächst über die Fundamente, über Ontologie und Sprache des Films (Band I), über sein Verhältnis zu Theater, Drama, Roman und Malerei (Band II), über soziologische Aspekte und vereinzelte Genres (Band III) bis zur zeitgenössischen Filmtendenz im Nachkriegseuropa: einer Ästhetik der Wirklichkeit im Neorealismus (Band IV). In dessen Reportagequalitäten und „Tatsachen-Bildern“ sah Bazin das filmische Äquivalent zum modernen amerikanischen Roman.
„Das Werk Bazins dreht sich um eine einzige Grundidee, nämlich die Bestätigung der filmischen ‚Objektivität‘. Darin ähnelt es der Geometrie, die sich insgesamt mit den Eigenschaften der Geraden befasst“, schrieb Eric Rohmer 1959. Für Rohmer, der in der Nachfolge von Bazin Chefredakteur der Filmzeitschrift Cahiers du cinéma war, bezeichnet ein Satz aus Bazins „Ontologie des photographischen Bildes“ (1946) eine kopernikanische Wende der Filmtheorie: „Der Film erscheint wie die Vorstellung der philosophischen Objektivität in der Zeit.“
Man müsse nicht unablässig den Nachweis erbringen, dass Kino eine Kunst sei, befand Bazin. Sinnvoller sei es zu untersuchen, wie sich das Kino von den anderen Künsten unterscheide. Wie glänzend es eine andere Kunst wie die Malerei durch seine Dauer und Objektivität in ein Filmwerk transponieren kann, weist Bazin an Henri-Georges Clouzots „Le Mystère Picasso“ (1955) nach. Es ist ein Film, in dem Picasso malt und dieser Malprozess in der zeitlichen Entstehung aufgenommen wird. So sind alle Stadien, die der Meister irgendwann übermalt, geopfert hat, festgehalten. „Man müsste die Bilder zeigen können, die unter den Bildern sind“ – so hatte Picasso sein Interesse an diesem Filmprojekt ausgedrückt, das freie Formen im Zustand ihrer Entstehung dokumentiert.
Für Bazin taucht der lebensbewahrende Impuls vom Ursprung der Künste – er nennt ihn den „Mumienkomplex“ – im photographischen Zeitalter wieder auf, in dem die leidenschaftslose Mechanik des Kamera-Apparats an einer „Einbalsamierung der Zeit“ arbeitet. „Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, es ist gleichsam die Mumie der Veränderung“, heißt es in „Ontologie des photographischen Bildes“. So zu filmen, wie man sieht und wahrnimmt, Gesten der Wirklichkeit so einzufangen, als seien sie das Leben selbst, die filmische Idee einer totalen Wiedergabe der Wirklichkeit: Das ist ein Gedanke, der noch vor dem ganzen Fiktions- und Dokumentarfilmkino liegt und heute in der industriellen Kinomaschine ebenso wie im Reality-TV in Vergessenheit geraten ist.
Bazin liebte das Kino, weil er sich für die Realität interessierte. Die Liebe zu den Dingen und ein ausgeprägtes Gleichheitsverhältnis zu den Menschen tragen die Theorie seiner Filmtexte. Die soziale Ästhetik des Kinos im Neorealismus der italienischen Schule, insbesondere Roberto Rossellinis Interesse am Objektiven, sichtbar an Beispielen wie „Paisà“ (1946) oder „Deutschland im Jahre Null“ (1947), bildeten für Bazin die revolutionären Tendenzen des Gegenwartskinos. Die Ästhetik extrem langer, ungeschnittener Kameraeinstellungen, der so genannten Plansequenzen, wie sie Luchino Visconti mit den Bewohnern eines sizilianischen Fischerdorfs in „Die Erde bebt“ (1947/48) entwickelte, die Dreharbeit mit Laien an Originalschauplätzen, der menschliche Anspruch in Vittorio De Sicas „Fahrraddiebe“ (1948) besaßen für Bazin ein ästhetisches Gegengewicht in der Schärfentiefe von Filmbildern, wie sie Orson Welles seit „Citizen Kane“ (1941) entwarf, sowie jenen groß angelegten Inszenierungen in die Raumtiefe, die Jean Renoir praktizierte – ein Höchstmaß an Regieleistung, an Mise en Scène.
Für François Truffaut (1933–1984) waren André Bazin und dessen Frau Janine Adoptiveltern. Als sie ihn aus dem Erziehungsheim herausholten, war er 15, Bazin 30 Jahre alt, und der Halbwüchsige war süchtig: Der Film war seine Droge. Bazin ermutigte ihn zu schreiben und redigierte die ersten Texte seines Ziehsohns für die seit 1951 erscheinenden Cahiers du cinéma. In der Einleitung zu „Was ist Film?“ schreibt Truffaut ehrerbietig und liebevoll über den intellektuellen „Linkskatholiken“, der in Filmclubs, aber auch in Fabriken bei Schichtpausen Kurzfilme zeigte und diskutierte, der zu Ferienzeiten weniger komfortabel wohnenden Freunden sein Haus anbot und schon einmal Leute, die im Regen auf den Bus warteten, in seinem Auto nach Hause fuhr.
Fragen über das Kino hat Bazin sich oft angesichts dokumentarischer, reportageartiger Filme beantworten können. Wenn zum Beispiel im Spielfilm Schneiden erlaubt ist, muss das im dokumentarischen Film noch lange nicht so sein. Wenn der Eskimo Nanook in „Nanook of the North“ (1920/21, Regie: Robert J. Flaherty) vor dem Eisloch auf die Robbe wartet, dann ist die Darstellung der Zeitdauer absolut unabdingbar für die Szene und eben nicht über einen dirigistischen Schuss-Gegenschuss-Schnitt zwischen Jäger und Beute aufzulösen.
„Wann immer es möglich ist, in derselben Einstellung zwei heterogene Elemente einzufangen, ist die Montage verboten.“ Eine klare Regel Bazins – gleichwohl wird auf die Montage nicht verzichtet, sondern sie ist im Gesamtbild enthalten, als Option dem Zuschauer überantwortet. Mit Blick auf den Tierfilm hat das eine zugleich komische und schwarz eingefärbte, weil gefährlich-tödliche Seite, wenn Bazin am Beispiel von Flahertys „Louisiana Story“ (1948) schreibt: „Sehen Sie, wie zu unserem Erstaunen der Regisseur die Nahaufnahmen unterlässt, die die Protagonisten des Dramas isolieren, um uns gleichzeitig in derselben Totale die Eltern, das Kind und die Raubkatze zu zeigen. […] Die Plansequenz, in der ein einfacher Schwenk zeigt, wie das Krokodil den Reiher verschlingt, ist einfach bewundernswert.“ Die Idee des Verzichts auf den Schnitt und die Zerlegung der Totaleinstellung beruhten auf modernen technischen Parametern wie der zunehmenden Tiefenschärfe, der Kamerabeweglichkeit und dem Breitwandformat des Films. Entscheidend ist jedoch, was zur Zeit der Aufnahme den Bildraum miteinander teilt und welche Spannung bis zur Unvereinbarkeit dort herrscht. In „The Circus“ (1928) zum Beispiel findet sich Charlie Chaplin tatsächlich im selben Käfig wieder wie der Löwe – und der Käfig insgesamt im Bildausschnitt des Films.
Anscheinend war die Auslassung des Sichtbaren durch Montage Bazin suspekt, wenn nicht gar verhasst, weil der Schnitt allgemein und abstrakt wirkt, eine imaginäre Zeit überbrückt und dem Betrachter gegenüber keine Mehrdeutigkeiten zulässt. Der Zuschauer wird quasi psychotechnisch geleitet, gemäß dem nicht sichtbaren Sinn der Montagestrategie; dagegen behauptet Bazin ein Kino der Kontinuität und der Gegenwärtigkeit, das alle Gefahren, alle Risse und Brüche in sich präsentiert. Im Kino sind so immer wieder sichtbar: Kämpfe auf Leben und Tod, Duelle und ungleiche Fronten, unendlich variierte Achsen und Trennlinien durch die filmische Einstellung. Das Ideal, den Film in der Wirklichkeit aufgehen zu lassen, bis an die Grenze seiner Aufhebung, bringt Bazins Text über De Sicas „Fahrraddiebe“ (1949) zum Ausdruck. Dieser eigentlich stilbildende neorealistische Film habe den Widerspruch zwischen theatralischer Handlung und bloßem Ereignis überwunden und sei so gesehen ein Beispiel „reinen Kinos“. „Kein Schauspieler, keine Geschichte, keine Mise en Scène mehr, das bedeutet in der vollkommenen ästhetischen Illusion von Realität letztendlich: kein Kino mehr.“ Am Horizont der Geschichte des Films hat Bazin einst dessen geglücktes Verschwinden gesehen.
André Bazin: „Was ist Film?“ Aus dem Französischen von Robert Fischer und Anna Düpee. 440 Seiten, Alexander Verlag Berlin, 29,90 €
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