Kein Gaddafi-Kuss für den Kanzler

Beim Treffen mit dem libyschen Staatschef setzt Schröder auf Höflichkeit. Er lobt Gaddafis Gesellschaftstheorien und vermeidet größeren Streit über die USA. Vor zu viel Nähe aber schreckt er zurück: Er will nicht, dass Gaddafi ihn umarmt und küsst

AUS TRIPOLIS JOACHIM SCHUCHT

Die Szene hatte etwas Operettenhaftes. In farbiger Aufmachung ging der Gastgeber in Stellung. Über die Schulter hatte Muammar al-Gaddafi einen kastanienfarbenen Burnus geschlagen. Darunter trug er ein weinrotes Seidenhemd, auf dem Kopf ein dunkles Käppi über den makellos schwarzen Locken.

Gerhard Schröder, wie gewohnt im dunklen Dienstanzug, ging entschlossen auf den Mann zu, dessen Agenten in den vergangenen Jahrzehnten für etliche Terrorakte in aller Welt verantwortlich waren. Mit einem Lächeln gaben sich beide die Hand. Vorsichtshalber blieb der Kanzler leicht auf Distanz. Das Risiko, von Gaddafi nach arabischer Sitte umarmt oder sogar geküsst zu werden, wollte er nicht eingehen. Solche Bilder sollten keinesfalls um die Welt gehen. Der mitgereiste SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski unternahm nichts, als Gaddafi ihn umarmte.

Der mitunter als gesprächsscheu geltende libysche Führer hatte viel Zeit für den Plausch mitgebracht. Von seinen zahlreichen Wohnsitzen hatte er sich als Treffpunkt mit Schröder für seine Unterkunft auf dem Kasernengelände von Bab al-Aziza entschieden. Der Sitz im Südwesten von Tripolis ist festungsartig ausgebaut und nur nach mehrfachen Kontrollen passierbar. Nahe einer Kamelweide unter Wacholderbüschen steht die Ruine eines Wohnhauses, das 1986 bei dem US-Vergeltungsangriff für den Anschlag auf die Berliner Discothek La Belle zerstört wurde. Die Außenmauern der einstigen Gaddafi-Wohnung sind an der Vorderfront völlig weggerissen. Die Ruine, vor der eine große stählerne Faust steht, die ein US- Flugzeug zermalmt, wird als Denkmal für Propagandazwecke erhalten. Gaddafi war damals nur um Haaresbreite davongekommen. Um nicht in eine antiamerikanische Ecke gestellt zu werden, machte Schröder lieber einen Bogen um die Ruine. Ohnehin musste er für die USA in die Bresche springen. Der Oberst schimpfte wie in alten Zeiten über Washington. Von einem zahmen „neuen Gaddafi“ war an diesem Punkt nichts zu spüren.

Aber auch an Deutschland hatte Gaddafi einiges auszusetzen. Auf einem Großbildschirm ließ er ein Video anlaufen. Es zeigte Opfer von Sprengsätzen, die General Erwin Rommels Truppen beim Rückzug im Zweiten Weltkrieg den Libyern reichlich hinterlassen haben. Gaddafis Wunsch, dafür entschädigt zu werden, stieß auf taube Ohren.

Nach dieser Einlage wechselten die Delegationen in ein komfortableres Zelt nebenan, wo das Essen serviert wurde. Angesichts des gerade angebrochenen Fastenmonats Ramadan war die Kosten kalorienarm – Salate, eine scharfe Suppe, Fisch und Fleisch mit Reis. In tiefen weißen Sesseln wurden Höflichkeiten ausgetauscht. Schröder zitierte zur Freude des Gastgebers aus dessen „Grünem Buch“, in dem Gaddafi seine „Dritte Universaltheorie“ und andere kühne Gesellschaftsvisionen niedergelegt hat. Er habe das Werk mit Gewinn gelesen, verriet der Kanzler. Vor dem Zelt stieß Schröder auf eine Kamelherde. Die Stuten braucht Gaddafi für seinen allmorgendlichen Stärkungstrank.

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