Die nette Musterschülerin

Gelegentlich fordert sie klare Kanten des Protestantismus, was Linke missverstehen

von JAN FEDDERSEN
und PHILIPP GESSLER

Margot Käßmann, Landesbischöfin der hannoverschen Landeskirche, geht als eine der Favoritinnen in die Wahl zum Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands. Aber selbst wenn sie dieses Mal nicht genug Stimmen erhielte: Die promovierte Theologin gilt schon jetzt als einziger Star unter Deutschlands Protestanten

Um ihren Erfolg zu begreifen, lohnt zunächst ein Blick auf ihre früheren Gegner. Synodalen, denen einen Welt zusammenbrach, als eine Frau am 3. Juni 1999 bei der Bischofswahl der hannoverschen Landeskirche mit 52 zu 45 die Mehrheit der Stimmen erhielt. Und das in Hannover, ausgerechnet. In jener mitgliederstärksten Landeskirche Deutschlands, bis dahin auch eine der konservativsten. Jene, vorwiegend Männer, die die Wahl der promovierten Theologin zu verhindern suchten, stöhnten auf: Viel zu jung sei sie, hieß es, obendrein eine Frau, mehr noch, Mutter von vier Töchtern. Eine Rabenmutter als Bischöfin?, unkte man öffentlich.

Ebendiese unverhüllten Anwürfe mögen dazu beigetragen haben, dass die tatsächlich ungewöhnliche Margot Käßmann gewählt werden konnte: Selbst eher skeptische Synodalen, die konfliktscheu die traditionelle Lösung bevorzugten, also einen Mann, wollten sich mit dem Vorurteil „Stark beruflich engagierte Frau gleich Rabenmutter“ nun nicht gemein machen.

Der Aufschrei der Empörung klang sehr rasch ins Lautlose aus. Margot Käßmann – besser hätte es jene Landeskirche nicht treffen können. Man liebt sie, man verehrt sie. Kein Tag, an dem nicht ein Kuchen in ihrer Kanzlei eintrifft, nebst guten Wünschen per Brief oder Postkarte. Gott hätte es nicht besser einfädeln könne: So schaute er auf eine Landeskirche, deren Glieder seit dem theologischen Aufbruch der Sechzigerjahre im Gefolge jenes aufrührerischen Jahrzehnts sich halbe-halbe feindselig belauerten: dort in der Mehrheit die eher Unpolitischen, denen Friedensbewegung Frauenfrage und alternative Lebensgemeinschaften ein Graus war; hier die Minderheit, die genau dafür stand.

Andere Landeskirchen hätten einen Ausgleich gefunden – nicht so in Hannover. Prominentestes Beispiel war das Schicksal des schwulen Pastors Klaus Brinker, der von seiner Landeskirche faktisch mit einem Berufsverbot belegt wurde. Hier zeigte sich gerade die hannoversche Landeskirche unerbittlich. Ja, Gott schien ratlos. So mag sie (oder er) sich gesagt haben: Dort wird jemand gesucht, der das Vertrauen der Rastlosen verkörpert und zugleich die anderen nicht ins Unrecht setzt. Ah, nach längerem Grübeln muss die Lösung „Margot Käßmann“ gelautet haben.

Denn sie hat alles, was eine evangelische Kirche braucht, um sich nicht selbst um den Preis der eigenen Existenz zu zerstreiten. Käßmann, 1958 in Marburg geboren, Kind eines früh verstorbenen Automechanikers und einer Mutter, die viel Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Töchter legte. Margot war begabt und wach genug, um das Gymnasium zu besuchen. Und sie machte ihren Weg. Glänzte in der Schule, ging ein Jahr in die USA, studierte schließlich in Tübingen, Edinburg, Göttingen und Marburg Theologie. Mit 25 Jahren hatte sie ihr erstes Staatsexamen geschafft – mit 31, als schon drei ihrer vier Töchter geboren waren, war auch ihre Promotion abgeschlossen, die Ordination zur Pfarrerin gelang ihr vier Jahre zuvor wie nebenbei.

Sie fiel schon während ihres Studiums als ausgesprochen offen auf. Nichts an ihr, wird überliefert, wirkte überkonzentriert oder streberinnenhaft, gar konkurrenzhaft. Margot Käßmanns Ehrgeiz wirkte lebendig, sie war keine, die andere zur Seite schubsen musste, um sich besser positionieren zu können. Und was bei anderen wie eine Vita des Apparatschiks zu lesen sein könnte, schien ihr zuzufliegen: Lehraufträge en masse, Studienleiterin an einer Evangelischen Akademie – und schließlich, 36-jährig, zur Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentags bestimmt.

Das war ein Posten, den sie fünf Jahre mit Bravour ausfüllte, als der deutsche Protestantismus Abschied zu nehmen begann von Leitthemen prägender, meist linker Figuren wie Dorothee Sölle, Jörg Zink, Fulbert Steffensky oder Luise Schottroff: HeldInnen der Kritik an frömmelnder Innerlichkeit, Interpreten einer Leseweise der Bibel, die christliche Tugenden im politischen Wirken für das Bessere eher verankert sahen als sonstwo.

Käßmann hat zu diesen Kreisen nie gehört, aber viel von ihnen gelernt: vor allem, nicht aufzugeben, selbst wenn evangelikaler Hass auf die moderne evangelische Kirche niederging. Wenn es mal wieder hieß, die Kirche fördere nur die Moderne (Feminismus, Pazifismus, Schwule), nicht die vermeintliche Tradition. Karrierismus warf man ihr gar vor – vor allem Menschen äußerten dies, die sie nicht kannten. Die fanden sich nur schwer damit ab, dass ihr Mann Eckard vorwiegend die vier Kinder hütet. Da soll wohl alte Chauvis beruhigen, wenn sie zugleich hervorhebt, sie liebe es, für ihre Kinder Plätzchen zu backen und ihnen Gutenachtgeschichten vorzulesen.

Was sie nicht sagt, ist ja: Und wenn ihr mit vertauschten Familienrollen Probleme habt, ist das euer Problem – weil ich es mir nicht anziehe. Ihre Aura schimmert nicht nur in dieser Hinsicht stets ganz klar: Mit mir müsst ihr rechnen, das scheint sie auszustrahlen, auf eure dummen Bedenken will ich nicht eingehen. Wobei ihr die Gabe eigen ist, auf den eigenen Standpunkt zu vertrauen, ohne dem anders meinenden Gegenüber das Gefühl zu geben, nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Käßmann wurde auf diese Weise schon zum Star der protestantischen Christen, ehe sie überhaupt zur Bischöfin gewählt wurde: In Talkshows ist sie schlagfertig und offen – und sieht obendrein hübsch aus. Respektvoll attestieren ihr Marketingprofis, sie kleide sich, als wäre sie nicht von Kirchens.

Anders als ihre Amtsschwester Maria Jepsen aus Hamburg zeichnet sie also keine kirchentaghafte Verhuschtheit aus: Käßmann wirkt eher wie eine Managerin mit theologischem Charisma. Niemals würde man ihre Person als Opfer skizzieren, nie als Verfolgte (wie Jepsen in Hamburg), nie als Quotenfrau mit Maria-Magdalenen-Habitus. Käßmann ist, im Gegenteil, eine ganz irdische Gestalt – was sie dadurch noch betont, dass sie in Interviews streut: Sie lese gerne Krimis, gehe, um abzuhängen, gern ins Kino und schätze ausgesprochen gute Küche.

Sie ist, hört man von ihren einstigen Gegnern, die beste Werbung für die Kirche in der Krise. Sie klagt über den Verlust von Mitgliederzahlen so, als wäre dies zwar traurig, aber doch höchstens noch ein weiterer Grund, voll Optimismus die Arbeit anzupacken. Und die begreift sie als Anwaltschaft für alle Schwachen, sehr christlich eben. Als Engagement gegen Fremdenhass und gegen Sozialabbau, als Promotorin einer besseren, gerecht globalisierten Welt.

Gelegentlich enttäuscht sie aber auch linke Freunde, fordert klare Kanten des Protestantismus, was einige als konservativ missverstehen: Als die orthodoxen Ostkirchen im weltweiten Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) wegen theologischer Differenzen durchsetzten, dass künftig gemeinsame religiöse Feiern mit den Protestanten nicht mehr als Gottesdienste bezeichnet werden sollten, trat sie nach 19 Jahren Mitgliedschaft unter Protest aus dem ÖRK aus. Sie regte gar die Gründung eines eigenen protestantischen Weltverbands an. Jüngst forderte sie, in der Verfassung der Europäischen Union ausdrücklich auf die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas zu verweisen – allgemeine Verweise auf „kulturelle, religiöse und humanistische Überlieferungen“ seien ein „Armutszeugnis“.

Schillernd ihre Position auch, was homosexuelle PastorInnen und die Homoehe angeht. Vor allem durch ihren persönlichen Einsatz sorgte sie schließlich für den Frieden, den der schwule Pastor Klaus Brinker mit seiner Landeskirche wieder schließen konnte. Ja, als der tapfere Mann Anfang September starb, war es Käßmann, die an seinem Grab eine bewegende Rede hielt. Die völlige Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der heterosexuellen Ehe lehnt sie jedoch ab: Die Ehe sei privilegiert und ein „geschützter Raum, in dem die nächste Generation heranwächst“, verkündetete sie vor zwei Jahren. Auch homosexuelle Pastorinnen und Pastoren dürften sich nicht als Lebenspartner eintragen lassen, „weil wir da eine bestimmte Lebensführung voraussetzen“. Das Thema sei ihr aber nicht prioritär, verkündete sie – im Vergleich etwa zum Elend und Hunger in der Welt. Soll heißen: Es gibt Haupt- und Nebenwidersprüche – und basta. Sie will einen. Und muss Rücksichten nehmen.

Würde sie sich als mögliche EKD-Ratsvorsitzende radikal gebärden, stünde die Kirche vor ähnlichen Spannungen wie die anglikanische Kirche als Folge der Wahl eines homosexuellen Bischofs. Das kann sie nicht wollen – und das will sie nicht. Ihr Lebenslauf deutet auf eine Kirche, die sich nicht spaltet. Ob sie gewählt wird, darf ihr gleichgültig sein: Noch ist sie jung genug, in ein paar Jahren neuerlich vorgeschlagen zu werden. Aber man wird an ihr nicht vorbeikommen: Keine andere protestantische Person ist so überzeugend wie sie. Gerade weil in ihr alles zum Leben kommt: das Neue und das Traditionelle. Käßmann – wie erfunden als Figur einer motivierenden Optimistin.