Gerhard Schröder und das Paradies

Vom Widerspruch zwischen Theorie und Praxis lebte die SPD immer. Der Kanzler hat das spät begriffen

BERLIN taz ■ Wahrscheinlich versteht Gerhard Schröder zu wenig vom Katholizismus. Höchst „katholisch“ sei das Verhältnis von Theorie und Praxis in der deutschen Sozialdemokratie, monierte ein italienischer Beobachter schon vor dem Ersten Weltkrieg. Er meinte: So wie der Papst den Zölibat predigt und die Kinder seiner Priester alimentiert, so wie der Priester die Sünden geißelt und im Beichtstuhl wieder vergibt – genauso predigt die SPD die Utopie vom Sozialismus, um sich den Erfordernissen der Alltagspolitik umso bereitwilliger zu unterwerfen.

So ist es bis heute geblieben. Deshalb irrte Schröder zutiefst, als er seine Reformpolitik nach dem Amtsantritt 1998 ausgerechnet mit einer Programmdebatte beginnen wollte. Sein „Schröder-Blair-Papier“ verschreckte die eigene Partei so sehr, dass an Veränderungen des real existierenden Sozialsystems auf Jahre hinaus nicht mehr zu denken war. Noch Jahre später erntete der nicht minder ahnungslose Generalsekretär Olaf Scholz einen Sturm der Entrüstung, als er den Wunsch nach Einführung des „Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm streichen wollte.

Dem Aufschrei in Theoriefragen steht auch im Jahr 2004 noch eine vergleichsweise geschmeidige Haltung in Fragen der praktischen Politik gegenüber. Nach anfänglichem Murren scheint der bislang tiefste Einschnitt in der Geschichte des bundesdeutschen Sozialstaats, Hartz IV und die damit verbundene Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, inzwischen weitgehend akzeptiert zu sein.

Schröder hätte es eigentlich wissen können. Schon immer in der Geschichte der SPD blieben alle Versuche, die SPD von ihren utopischen Fernzielen abzubringen, vergeblich – selbst wenn die übergroße Mehrheit der Genossen sie ohnehin für unerreichbar hielt. Der Parteitheoretiker Eduard Bernstein, der sich in der Zeit um 1900 um die Angleichung von Theorie und Praxis bemühte, musste sich keineswegs nur von der Parteilinken beschimpfen lassen. Im Gegenteil: Gerade die praktischen Reformpolitiker fürchteten den Aufruhr, den Bernstein mit seinen aussichtslosen Bemühungen verursachte. So schimpfte der Sozialdemokrat Ignaz Auer: „Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“

Die ungeliebten Praktiker der Partei hielten sich seither daran – vom ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert bis zum SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Sie taten, was sie für richtig hielten, und scherten sich nicht um das Programm. Willy Brandt scheiterte als Kanzler, weil er für die Utopie stand, nicht für die Praxis. Er konnte nur deshalb fünf Jahre an der Regierung durchhalten, weil er sich in dieser Zeit hauptsächlich mit Außenpolitik beschäftigte, einem Feld also, das in der Theoriebildung der SPD nie eine große Rolle gespielt hatte.

Gerhard Schröder dagegen glaubte anfangs, er könne beides miteinander verbinden. Zu lange musste der Niedersachse einst bei den Jusos Theoriedebatten über sich ergehen lassen, als dass er seine Politik nicht gerne in einen großen utopischen Entwurf gekleidet sähe. Er sehnte sich nach der Popularität eines Willy Brandt – ohne zu sehen, dass es die Popularität eines Parteivorsitzenden war, nicht die Popularität eines Bundeskanzlers.

Nirgends war dieses dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis so klar ausgedrückt wie in dem wohl wichtigsten Parteiprogramm der SPD, dem Erfurter Programm von 1890. Es gliederte sich in zwei Abschnitte über revolutionäre Erwartungen und reformistische Nahziele, die völlig unverbunden nebeneinander standen. Der damalige Cheftheoretiker Karl Kautsky goss diesen Widerspruch in den unvergesslichen Satz: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei.“

Der utopische Überbau jenseits der praktischen Politik hat es der SPD stets erleichtert, Zeiten der Opposition unbeschadet zu überdauern. Die bürgerlichen Parteien tun sich damit weitaus schwerer, wie gerade die theoriearme CDU derzeit besonders drastisch erfahren muss. Die Flucht in quasireligiöse Diskurse befördert freilich auch die fatale Neigung, den Erhalt der Regierungsmacht im Zweifelsfall für zweitrangig zu halten.

Die christlichen Züge des Marxismus – das Festhalten an einem Fundus kanonisierter Schriften, die Heilserwartung und die Betonung des eigenen Märtyrertums – hat die Sozialdemokratie mit ihrem „katholischen“ Verhältnis von Theorie und Praxis zur Vollendung gebracht. Die Hoffnung auf dieses säkularisierte Paradies darf man der sozialdemokratischen Partei offenbar nicht rauben. Das gilt umso mehr, je weniger paradiesisch die Wirklichkeit sich präsentiert. RALPH BOLLMANN