Die Stunde der Gesundbeter

Mit dem Stammsitz der Opel AG geht es bergab, der Wegfall von 4.000 Arbeitsplätzen trifft Rüsselsheim hart. Die Bürger sind ohnmächtig, und der Bürgermeister träumt von zusätzlichen Steuereinnahmen

RÜSSELSHEIM taz ■ Am Abend, als General Motors den Abbau von 12.000 Stellen bei seinen europäischen Tochtergesellschaften Opel, Saab und Vauxhall verkündete, brachte der Rüsselsheimer Oberbürgermeister Stefan Gieltowski (SPD) den defizitären Haushalt 2005 im Stadtparlament ein. Das Stammwerk der Adam Opel AG in Rüsselsheim ist vom Stellenabbau besonders betroffen. 4.000 Arbeitsplätze sollen entfallen. Die Opelstadt schiebt seit Jahren einen gigantischen Schuldenberg vor sich her. Und damit die Kommune auch künftig einigermaßen über die Runden komme, so Bürgermeister Gieltowski, müsse die Einwohnerzahl „moderat erhöht“ werden. Das bringe zusätzliche Steuereinnahmen.

Die Einwohnerzahl erhöhen? Zusätzliche Steuereinnahmen?

So viel Naivität . oder ist es Chuzpe? – war noch nie, und das, obwohl es unter Kommunalpolitikern in Rüsselsheim Tradition hat, existenzielle Probleme der Stadt geflissentlich zu übersehen oder schönzureden. Hunderte Familien werden in den kommenden zwei Jahren den Ort verlassen, denn andere Industriearbeitsplätze gibt es trotz aller Ansiedlungsbemühungen in der Stadt nicht. So bietet die Stadt seit Jahren das Gewerbegebiet „Blauer See“ wie sauer Bier an, sogar auf Werbetafeln an den Autobahnen. Alles umsonst. Nur der asiatische Autohersteller Hyundai hat seine Deutschlandzentrale dort aufgeschlagen und rund 150 Arbeitsplätze geschaffen.

Zur Jahrtausendwende schlossen Karstadt und Peek & Cloppenburg. Schon damals war klar, dass die City bald ausbluten würde. Im Rathaus träumte man da noch von der „City West“, direkt neben der fantasielos gestalteten „alten“ Innenstadt mit ihren zwei langweiligen Fußgängerzonen. Die von Opel im Verlauf der ersten Autokrise nach dem Wendeboom geräumten historischen Backsteingebäude sollten mit Nobelboutiquen, Spitzenrestaurants und Galerien „gefüllt“ werden. Doch Interessenten für das Projekt auf dem gigantischen Areal gab es nicht. Die betuchten Rüsselsheimer kaufen schon lange in Mainz, Frankfurt oder Wiesbaden.

Mit Rüsselsheim geht es bergab und die Bürger sehen die Zukunft realistischer als die Politiker. Jetzt noch 4.000 Stellen weniger bei Opel – „da gehen doch hier bald alle Lichter aus“. Das war der Satz, der den Reportern wohl am häufigsten in die Mikrofone gesprochen wurde. Kämpferisch wie in Bochum gibt man sich nicht am Stammsitz von Opel, eher resigniert. Die Politiker hier könnten noch so viel „krakeelen“ und an GM appellieren. „Die Amis“ machten am Ende doch, was sie wollten, sagt ein Monteur im grauen Opel-Zweiteiler am Hauptportal.

An „das Schlimmste“ will kaum einer denken: an die vollständige Schließung des Standorts. Die aber ist noch nicht vom Tisch. Eine Standortgarantie hat GM für kein Werk in Europa gegeben. Die Betriebsräte wollen jetzt in den Verhandlungen darauf drängen; und auf den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen. Eine Einigung nach dem Modell Karstadt? GM ist allerdings kein deutsches Traditionsunternehmen mit Standortbindung, sondern ein international operierender Gigant mit Stammsitz in den USA.

In den USA, in Südamerika und Asien hat GM in den vergangenen Jahren – wenn auch mit Ertragsschwankungen – Geld verdient, in Europa nur verloren. Im dritten Quartal 2004 waren das 236 Millionen Dollar, in den beiden Quartalen zuvor zusammen knapp 200 Millionen Dollar. Die Fahrt durch das tiefe Tal der roten Zahlen ist rasant. Sie begann allerdings schon Mitte der 90er-Jahre, als die von GM nach Rüsselsheim beorderten Vorstandsvorsitzenden von Opel „alle naslang“ ausgewechselt wurden, weil sie, wie es ein Betriebsrat heute ausdrückt, „nur Mist“ bauten. Und als der „Top-Sanierer“ Lopez das Unternehmen fast kaputtsparte und so den Ruf von Opel als Produzent von zuverlässigen Autos nachhaltig ruinierte.

Detroit zieht jetzt die Notbremse. GM erwirtschaftete im dritten Quartal 2004 auch in den USA 22 Millionen Dollar Verlust, nach einem Gewinn von 338 Millionen Dollar im Quartal zuvor. In den USA wurde deshalb die Produktion gedrosselt, allerdings ohne dass Entlassungen angekündigt sind. Das Europageschäft wurde dafür zum Sanierungsfall erklärt.

Und wer saniert die Standorte? Der Bund und die Länder Hessen und Nord-rhein-Westfalen jedenfalls nicht. Das verbietet die Europäische Union, sagt der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU). Und was macht OB Gieltowski in Rüsselsheim? Die Gesundbetmaschine anwerfen. Er hofft, dass alles friedlich bleibt in der „City for peace“. So nennt sich Rüsselsheim gerne, weil hier bislang so viele Menschen unterschiedlichster Nationalitäten relativ konfliktfrei zusammenlebten – und -arbeiteten. KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT