Das Chrom-Skalpell im Anschlag

Auswege aus der Gesundheitsmisere: Do-it-yourself-Medizin statt Praxis-Maut

Ein Blick ins Jahr 2004. Eine Wohnküche in München-Neuperlach. Die Fleischereifachverkäuferin Helga Eberl hat sich bei einem Sturz von der Haushaltsleiter den Knöchel verstaucht und legt sich jetzt mit großer Geschicklichkeit einen Gipsverband an. „Nur gut, dass ich von der letzten Renovierung noch eine angebrochene Packung Moltofill hatte. Mit dem Fuß wäre ich wohl nicht mehr bis zum Baumarkt gekommen.“ Mit ihrer erstaunlich professionell durchgeführten Eigenbehandlung hat die 54-Jährige gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Reste aufgebraucht und die ab 2004 pro Quartal fälligen10 Euro Praxisgebühr gespart.

Die Gesundheitsreform geht in die nächste Runde. Und sie zeigt Wirkung – Eigeninitiative wird wieder groß geschrieben. Um der gesetzlich vorgeschriebenen Praxis-Maut zu entgehen, sucht der kranke Geringverdiener ab 2004 wohl nur noch in Extremfällen wie amyotropher Lateralsklerose oder Lepra den Arzt seines Vertrauens auf. Selbstdiagnose und Do-it-yourself-Behandlung werden zum heißesten Gesundheitstrend des nächsten Quartals. Um die Gunst der Ratsuchenden liefern sich Verlage, Rundfunk, Fernsehen und Internet ein heißes Rennen, bei dem das Web den traditionellen Medien eindeutig den Rang abzulaufen scheint.

Früher musste sich der Eigentherapeut noch mühselig durch medizinische Ratgeber in Buchform kämpfen oder TV-Sendungen wie „Gesundheitsmagazin Praxis“ oder „Die Sprechstunde“ über sich ergehen lassen. Da sitzt dann die keim- und knitterfreie TV-Ärztin Antje-Katrin Kühnemann und feuert im Stil einer Stalinorgel Fragensalven in Richtung Studiogast ab – um die meisten Fragen anschließend selbst zu beantworten und den Zuschauer weitgehend ratlos zurückzulassen.

Im Internet ist diese zeitraubende und wenig zielgerichtete Prozedur nicht mehr nötig – der Ratsuchende kann seine Fragen direkt an einen animierten Computer-Mediziner stellen. Die digitalen Halbgötter in Weiß haben mittlerweile an jeder Ecke des Web ihre Praxen eröffnet und liefern dem Surf-Patienten Tipps und Tricks für die erfolgreiche Eigenbehandlung. Anbieter interaktiver Gesundheitsversorgung sind unter Adressen wie wehweh.de oder praxismautade.de zu finden. Und der virtuelle Medizinmann bietet kompetenten Rat auch in Fällen, in denen ein Hausarzt längst die Segel streichen müsste. „Seit ich meine Hystiozytose im Internet selbst behandeln kann, habe ich bei der AOK schon 50 Bonustabletten angespart“, schwärmt die fidele Rentnerin Elfriede Keller aus Offenbach von ihrer gelungenen Eigentherapie. Das Pills & More-Bonusprogramm der gesetzlichen Krankenkasse ermöglicht Selbstbehandlern außerdem die Einstufung in einen niedrigeren Schadenfreiheitsrabatt und ist volkswirtschaftlich gesehen der absolute Kostensenkungshammer.

Die Vorteile der Webmedizin für den Patienten liegen auf der Hand:

– 24 Stunden Erreichbarkeit – rund um die Uhr, rund um den Globus;– sekundenschneller Zugriff auf medizinische Datenbanken weltweit: wichtig bei seltenen Krankheiten wie Lassa-Fieber, Galaktosämie oder Bauchweh – kein lästiges Warten im Wartezimmer;– dialoggeführtes Diagnoseprogramm;– Symptomerkennungsmodul mit vollautomatischem Therapiegenerator – und für viele Internet-Patienten das Allerwichtigste: Während der Eigenbehandlung kann nebenbei ganz gemütlich ein Bierchen „gezischt“ werden …

Dass die medizinische Versorgung in Eigenregie via Internet natürlich auch ihre Tücken hat, musste unlängst der Feinmechaniker Alfred Kunz aus Schifferstadt erfahren. Der begeisterte Modellbauer hatte sich im Praktiker-Baumarkt in der Gesundheitsstraße einen medizinischen Instrumentenkoffer gekauft, um nach Schritt-für-Schritt-Anweisungen aus dem Internet den Blinddarm seiner Frau zu entfernen. Alles lief nach Plan: Die Narkose zeigte Wirkung, die Bauchdecke war mit einem fachgerecht ausgeführten Schnitt vorschriftsmäßig geöffnet, der entzündete Blinddarm geortet, das hochwertige Chrom-Vanadium-Skalpell in Anschlag gebracht. Doch dann wartete der begabte Hobby-Operateur vergebens auf weitere Anweisungen aus dem Internet. Aber es kam nichts. Minutenlang starrte Alfred Kunz auf den Bildschirm, bis die schreckliche Wahrheit langsam in sein Bewusstsein sickerte: Sein Computer war ausgerechnet in der heißen Phase der so sorgfältig geplanten Operation abgestürzt.

Glück im Unglück hatte der zerknirschte Schifferstädter, dass der herbeigerufene Notarzt das Leben seiner Frau retten konnte – ohne die 10 Euro Praxisgebühr zu berechnen.

RÜDIGER KIND