„Wir sind kein Wolfsrudel“

Die Demonstranten, die am Samstag gegen den „Sozialkahlschlag“ demonstrierten, haben Recht, sagen Berliner Politiker. Keine der Parteien will ihre Forderungen ignorieren – aber sie auch nicht konkret umsetzen

Auch für Berliner Politiker kam der große Zulauf der Demonstration am Samstag unerwartet. Die taz hat sie deshalb gefragt, was sie von der überraschend deutlichen Unmutsäußerung halten.

Kann man 100.000 Menschen ignorieren?

Stefan Liebich (PDS): Ich finde, man kann die Menschen nicht mehr lange ignorieren. Und ich bin deshalb sehr froh, dass es am Samstag so viele geworden sind. Ich hoffe, die Bundesregierung berücksichtigt diesen Protest in ihren Beratungen.

Sybill Klotz (Grüne): Das war eine bemerkenswerte Demonstration, bei der die Menschen klar gesagt haben, dass sie die Pläne der rot-grünen Bundesregierung nicht für sozial gerecht halten. Ich glaube nicht, dass man das ignorieren kann.

Gregor Hoffmann (CDU): Die Größe der Demonstration hat gezeigt, wie besorgt viele Menschen inzwischen im Hinblick auf ihre soziale Sicherung oder ihre Berufsperspektiven sind. Das kann man nicht ignorieren!

Martin Lindner (FDP): Nein, man kann 100.000 Demonstranten nicht ignorieren. Die Frage ist allerdings, ob man ihnen nachgibt. Es gibt viele Menschen, die die Politik persönlich berührt, und die hat man ernst zu nehmen. Aber nicht die Parteien und Verbände, die im Kopf so verkrustet sind, dass sie sich den Umbau der Sozialsysteme gar nicht vorstellen können.

Haben die 100.000 Recht?

Liebich: Ja, denn mit den Plänen der Bundesregierung – etwa dem Vorziehen der Steuerreform – werden zu großen Teilen die Reichen entlastet, während die Kürzungen zu Lasten derer gehen, die eh schon wenig haben.

Klotz: Teilweise. Ich halte es auch für richtig, in Bildung zu investieren, Steuerschlupflöcher zu begrenzen oder über die Erbschaftssteuer nachzudenken. Vor einigen Plänen der Bundesregierung stehe ich so fassungslos wie die Demonstranten.

Hoffmann: Sie haben Recht, denn die Politik muss die Rahmenbedingungen für die soziale Ausgewogenheit schaffen. Vor allem aber muss sie Perspektiven und Ziele aufzeigen, das tut sie momentan nicht.

Lindner: Man muss den Umbau der Sozialsysteme mit aller Härte vorantreiben, sie funktionieren nicht mehr – schließlich stammen sie zum Teil noch von Bismarck. Aber wir sind kein Wolfsrudel, die Solidargemeinschaft muss erhalten bleiben.

Was bedeutet der Protest für die Berliner Politik?

Liebich: Man darf die Berliner und die Bundespolitik nicht gleichsetzen. Unsere Einnahmen hängen vom Bunde ab. Ich hoffe, dass die Leute das unterscheiden. Und: Wir kürzen nicht bei denen, die sowieso wenig haben.

Klotz: Die Menschen haben gezeigt, dass sie einen anderen Politikstil wollen, als den von Rot-Rot. Sie erwarten mehr offene Debatten über Alternativen.

Hoffmann: Viele der Demonstranten sind wegen der Willkür bei den Tarifverhandlungen auf die Straße gegangen. Gerade bei den kleinen Einkommen machen sich die Einsparungen deutlich bemerkbar. Deshalb war das erst der Anfang der Auseinandersetzungen.

Lindner: Der Berliner Senat spart bislang absolut unstrukturiert. Er sollte sich erst mal darüber klar werden, in welchen Bereichen er investieren und wo er Kosten sparend arbeiten will.FRAGEN: SUSANNE AMANN