Das Korrektiv von irgendwas

Die FDP-Politiker sind zu ungeduldig und zu selbstbesoffen. Sonst würden sie begreifen: Sie haben keine strategischen Optionen – und brauchen daher auch keine Positionen

Ob Westerwelle nach der Wahl 2006 Außenminister wird, hat nicht viel mit seinen Qualitäten zu tun

FDP-Chef Guido Westerwelle will endlich Außenminister werden, „spätestens 2006“, lautet sein Zeitplan für die Regierungsübernahme. Momentan sieht es jedoch nicht so aus, als könnte der ehrgeizige Termin eingehalten werden; die Liberalen dümpeln in den Umfragen bei fünf bis sieben Prozent. Gebeutelte Parteichefs kennen das: Während die Wähler schwinden, wächst die Zahl der ungefragten Ratgeber. Aus allen Republikteilen meldeten sich Liberale, um marketinggeschult zu verkünden, dass „Botschaften endlich zugespitzt“ werden müssten. Westerwelle weiß, was bei parteiinternen Krisen zu tun ist. Man gibt sich „selbstkritisch“. Wenn die Partei so dringend Botschaften verlangt, dann macht man eben – wie am Wochenende – „Positionen deutlich“ mit einem Positionspapier.

Die FDP sehnt sich so sehr nach Botschaften, dass schon vergessen ist, dass Westerwelle gerade erst im September ein Papier herumgereicht hat in der Parteispitze und in der Bundestagsfraktion. Diese Schnelllebigkeit von Konzepten kann eigentlich nur bedeuten, dass momentan egal ist, welche Parolen sich die Liberalen ausdenken. Die Parteikrise hat mit dem Proklamatorischen nichts zu tun – ja, noch nicht einmal mit der FDP. Die Liberalen sind keine Akteure, sondern eine fünffache Ableitung der Umstände.

Ableitung I: Eine der politischen Binsenweisheiten predigt, dass die Opposition nicht gewählt, sondern die Regierung abgewählt wird. Ob Westerwelle nach der Bundestagswahl 2006 Außenminister wird, hat demnach nicht sonderlich viel mit seinen Qualitäten zu tun. Er ist nur ein Zuschauer mit Ambitionen. Das ist natürlich bitter für sein Ego, aber auch tröstlich nach all den Personalquerelen: Kein Konkurrent könnte es besser – oder schlechter. Die eigentliche Frage, fern der Marke Westerwelle, lautet: Wie stehen die Chancen von Rot-Grün, sich in eine dritte Legislaturperiode zu retten?

Damit wären wir bei Ableitung II: „It’s the economy, stupid.“ Auf dieser zweiten Binsenweisheit des Polit-Geschäfts ruhen alle Hoffnungen der Regierung. Derzeit sieht es so aus, als würde der weltweite Aufschwung Ende 2004 auch Deutschland erreichen. In den rosigen Kalkulationen von Rot-Grün steigert sich das Wachstum dann zum Boom kurz vor der Bundestagswahl im Herbst 2006. Die Regierungsstrategen sehen das Szenario klar vor sich: Im Fieber von Reichtum und Gier würden die Wähler dann für das sichere „Weiter so“ optieren und sich erneut der mannhaften Führung von Kanzler Schröder anvertrauen. Wahr an diesen Visionen ist zumindest, dass die Opposition nur eine Chance hat, wenn die Wirtschaft nicht allzu sehr rauscht. Aber was bedeutet „die Opposition“?

Ableitung III: Sehr zum Ärger der FDP ist sie zwar in der Opposition, aber nicht die Opposition. Diesen Ehrentitel besetzt die Union, die Liberalen sind nur ihr Anhängsel. Der hässliche Name dafür heißt: „Mehrheitsbeschaffer“. Mehr sind die Liberalen nicht, wie auch der Berliner FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Lindner schonungslos analysiert hat. Mit dieser Wahrheit kann man bei den Wählern aber nicht hausieren gehen. Westerwelle versucht daher das Mögliche, um die Machtverhältnisse zu verschleiern. Also hat er mit der Union einen „Oppositionsgipfel“ vereinbart, um eine gemeinsame Strategie in Bundesrat und Vermittlungsausschuss abzustimmen. CDU-Chefin Angela Merkel war nach längerem Zögern so gnädig, darauf einzugehen und die FDP mit einer eingebildeten Bedeutung auszustatten. Denn faktisch braucht die Union die Liberalen nicht, um im Bundesrat Politik zu machen.

Diese Ohnmacht kann man als „Unabhängigkeitsstrategie“ schönreden, wie es der FDP- Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt am Sonntag tat. Der ambitiöse Begriff ist sogar treffend, wenn auch ungewollt. In der realen Welt meint er eben nicht, dass sich die Liberalen frei für einen Koalitionspartner entscheiden können – sondern umgekehrt, dass die großen Parteien auch unabhängig von der FDP zur Regierung gelangen können. Sie haben mehrere Optionen, die Bundesliberalen hingegen sind an die Union gekettet.

Vielleicht lässt sich Merkel kurz vor der Bundestagswahl dazu hinreißen, eine „Zweitstimmenkampagne“ der Liberalen zu tolerieren, aber für solche Entscheidungen ist es viel zu früh. Überhaupt das Timing. Vor kurzem noch gab Westerwelle die Erkenntnis aus, dass der Wahlkampf und damit die Zeit der „Botschaften“ erst 2005 beginnen könne. Diese Einschätzung war sehr weise – aber offensichtlich ist seine Partei zu ungeduldig oder zu selbstbesoffen, um ihre außerordentlich mageren strategischen Optionen zu begreifen. Die FDP kann nämlich nur die Botschaft senden, die die Union bewusst nicht streuen will.

Das wäre Ableitung IV: Als Mehrheitsbeschaffer müssen die Liberalen jene Wähler ansprechen, die die CDU/CSU an der Regierung sehen wollen, aber ein Korrektiv wünschen. Nur Korrektiv von was? Um eine Ergänzung zur Union darzustellen, müsste man wissen, welchen programmatischen Kurs die Union einschlagen will. Das ahnt aber niemand, noch nicht einmal Angela Merkel, so scheint es. Nach ihrem Bekenntnis zur Kopfpauschale im Gesundheitswesen könnte man annehmen, dass sie dem Kurs vom Fraktionsvize Friedrich Merz folgt, der das Sozialdemokratische in der Union bannen will. Doch spätestens kurz vor der Wahl dürfte es vielen Abgeordneten dämmern, dass ihre Rückkehr in den Bundestag gefährdet ist, wenn die CDU auf allzu herzlosen Neoliberalismus setzt. Und genau dann wird man den Kuschelbegriff namens „Mitte“ wiederentdecken – obwohl sich dort auch schon SPD und Grüne engagieren.

Wenn die Partei so dringend Botschaften verlangt, dann schreibt man eben ein „Positionspapier“

Daraus ergibt sich Ableitung V: Wenn, wie zu vermuten, alles zur Mitte drängt, dann muss die FDP die Ränder besetzen. Dafür gibt es zwei Varianten. Entweder die Liberalen kehren zur „Champagner-Etage“ zurück; danach klingen die neuesten Positionen vom Wochenende, wonach sich „Leistung wieder lohnen“ soll. Jedoch weiß Westerwelle selbst am besten, wie begrenzt die Chancen einer „Partei der Besserverdienenden“ sind. Außerdem, das ist ja Teil des liberalen Leids, hat Rot-Grün die Kampagne gegen die angeblichen „Faulenzer“ unter den Faulenzern längst gestartet. Oder aber die FDP macht sich konsequent zur Partei der Modernisierungsverlierer. Traditionell war sie das schon immer, indem sie die Privilegien der Beamten, Handwerker und Apotheker verteidigte. Der 13-Prozent-Erfolg in Sachsen-Anhalt hat die erweiterte Option aufgezeigt: Die Liberalen können auch bei politikfernen Arbeitslosen punkten, also bei den modernen Modernisierungsverlierern.

Die FDP muss sich mit den Wählern begnügen, die bei den anderen Parteien übrig bleiben. Ob Westerwelle als Repräsentant dieser Restgröße irgendwann als Außenminister ganz Deutschland repräsentiert – das wird noch spannend. Vorher aber, so viel ist sicher, werden weitere langweilige Positionspapiere verfasst. ULRIKE HERRMANN