Freie Fahrt für Westerwelle

FDP-Chef Guido Westerwelle will Deutschlands Motor auswechseln. Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung und Flächentarif sind verzichtbar, 45 Jahre Arbeit für jeden Lohn, so sieht die freidemokratische „Erwirtschaftungsgesellschaft“ aus

von BETTINA GAUS

Es könnte eine Sensation sein: Ein deutscher Spitzenpolitiker ruft zur Revolution auf, und die Prominenz der Partei, die immerhin 42 Jahre lang innerhalb des Systems mitregiert hat, folgt ihm. Die „einstimmige Zustimmung“ habe er gestern vom Bundesvorstand erhalten, erklärte der Politiker, nachdem er bereits am Vortag dasselbe Votum von den Landes-und Fraktionsvorsitzenden bekommen hatte. Es könnte eine Sensation sein – aber es ist keine. Denn die Partei ist die FDP, und der Spitzenpolitiker ist Guido Westerwelle. Und das bedeutet vor allem: Getöse mit Topfdeckeln. Porzellan kann derzeit mangels Zugriffsmöglichkeit auf die politische Macht gar nicht zerschlagen werden.

Wäre es anders, dann schlüge Westerwelle wohl leisere Töne an. So aber kann er draufhauen: Das ganze System sei marode. Es habe deshalb keinen Sinn mehr, die „Stellschrauben“ zu verändern. Vielmehr müsse gleich der ganze Motor ausgewechselt werden. „Das wissen die Menschen auch“, erklärte der FDP-Vorsitzende gestern. „Die warten auf den großen Wurf und haben die Nase voll.“ Und so sieht er aus, der große Wurf: Auf 42 Seiten hat der FDP-Vorsitzende in einem Strategiepapier beschrieben, wie er sich „die freie und faire Gesellschaft“ vorstellt. Nämlich so: ohne gesetzliche Pflegeversicherung und ohne gesetzliche Krankenkassen – deren Aufgabe soll künftig „vollständig“ von privaten Versicherungen übernommen werden.

Die FDP soll nach dem Willen ihres Chefs außerdem dafür eintreten, dass das gesetzliche Renteneintrittsalter abgeschafft und stattdessen nur diejenigen Anspruch auf die volle Rente haben, die 45 Beitragsjahre vorweisen können. Spitzenverdiener dürften sich damit leichter anfreunden als Geringverdiener. Die sollen, wenn es nach Westerwelle geht, künftig noch weniger verdienen können als bisher: „Fair ist, wenn Sozialhilfeempfänger jede angebotene legale Arbeit annehmen müssen, auch wenn sie untertariflich bezahlt wird.“ Er sagt auch, was unfair ist: „Es ist unfair, wenn jemand mit viel Risiko und Fleiß eine Firma aufbaut, dafür in Deutschland aber nur Neid erntet.“

Westerwelle plädiert für einen „Systemwechsel vom Verteilungsstaat zur Erwirtschaftungsgesellschaft“. Dazu gehöre, die Tarifautonomie zurückzugeben „in die Hände von Arbeitnehmern und Unternehmern, von Betriebsräten und Geschäftsführern“. Sie sei „kein Privileg von Verbänden und Gewerkschaften.“ Über dem großen Ganzen hat der FDP-Vorsitzende den Blick fürs Detail nicht verloren: „Es ist unfair, wenn zu schnelles Fahren kriminalisiert und Ladendiebstahl gleichzeitig bagatellisiert wird. Fair ist, wenn der Rechtsstaat zuerst das Eigentum und die Sicherheit der Bürger schützt.“ Haben Geschwindigkeitsübertretungen nichts mit Sicherheit zu tun?

All dem haben also die Spitzenpolitiker der FDP zugestimmt. Nun gut, vielleicht nicht allem: Viele Einzelheiten würden durchaus „sehr kontrovers“ betrachtet, berichtete Westerwelle gestern, und man habe „nicht über jedes Detail gesprochen“. Es gab ja genug anderes zu bereden. Der Bundesvorstand verständigte sich darauf, die Unternehmensberaterin Silvana Koch-Mehrin als Spitzenkandidatin für die Wahl zum Europaparlament zu nominieren. Außerdem war Versöhnung angesagt, nachdem sich einige FDP-Vertreter in den letzten Wochen öffentlich gestritten hatten wie die Kesselflicker. Jetzt haben sich alle wieder lieb, jedenfalls bis zum nächsten Interview. Und die FDP bleibt eine „Partei für das ganze Volk“, die, so Westerwelle, „unverändert wie bisher auch Vordenkerin in der deutschen Parteienlandschaft ist“.