Das Fenster zum Schulhof

Beim ersten Besuch fragten die GIs die verängstigten Schüler, wen sie lieber mögen: Saddam oder Bush?

aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY

„Schau, das ist meine irakische Berliner Mauer“, sagt Abdel Amir al-Taì und deutet auf eine offensichtlich hastig hochgezogene Ziegelwand, die mitten durch seinen Schulhof verläuft. Der Direktor der Bagdader Kuraisch-Grundschule erlebt, wie er es selber beschreibt: „eine absurde Besatzung in der Besatzung“. Auch zwei Monate nach der Wiedereröffnung der Schulen im neuen Irak ist es mit der Sicherheit der Bildungseinrichtungen nicht weit her.

Einen Monat nach dem Krieg kam eine Gruppe Bewaffneter in der Grundschule vorbei und besetzte sie mit dem Argument, der Grund und Boden der seit 1932 bestehenden Schule gehöre ihrem Urururgroßvater. Dann richtete sich die Salameh-Familie in der Turnhalle häuslich ein, verkaufte die Sportgeräte auf dem Schwarzmarkt und zog die Mauer durch den Schulhof. Großzügig wurde dem Direktor erklärt, er könne im anderen Teil der Anlage mit seiner Schule weitermachen – mietfrei.

Seitdem hat Abdel Amir alles versucht. Er hat Briefe ans Erziehungsministerium geschrieben, die Amerikaner und die irakische Polizei informiert. Zuerst kamen die US-Soldaten. Sie gingen in die Sporthalle und verscheuchten die Salamehs, wenngleich nur für ein paar Tage. Dann tauchte die irakische Polizei auf, vernahm aber nicht die Eindringlinge, sondern den Direktor, und fragte, wie er dazu komme, der Familie die Nutzung seiner Sporthalle zu erlauben. Geholfen hat das alles wenig. Die Salamehs sind immer noch da und drohten zuletzt, eine Handgranate auf den mit seiner Familie in der Schule lebenden Direktor zu werfen, sollte er noch einmal zu den Amerikanern gehen.

Auch Khadischa Ali Medschwal ist um die Sicherheit ihrer Schule besorgt. In unmittelbarer Nachbarschaft der Nagib-Pascha-Grundschule in Bagdad befinden sich einige ausländische Botschaften und die Häuser mehrerer Mitglieder des provisorischen Regierungsrats, alles mögliche Anschlagsziele. Die Direktorin plagt auch die Sorge um einige Schüler aus reicheren Familien. Kindesentführungen stehen seit Ende des Krieges in Bagdad auf der Tagesordnung.

Doch damit nicht genug. Regelmäßig kommen die US-Soldaten unangemeldet in der Nagib-Pascha-Schule vorbei. Wie auch an diesem Morgen: Leutnant Corban Sawyer schreitet voran, während ein Gefreiter ihm mit der Waffe im Anschlag den Rücken deckt. Der freundliche Offizier tritt ins Büro der Schulleiterin, die Nachhut bezieht an der Tür kniend Posten, misstrauisch, das Gewehr auf dem Oberschenkel, den Schulhof argwöhnisch beäugend.

„Ich fühle mich gut, in diesem Viertel zu helfen, das zivile Leben wieder in Gang zu bringen“, erklärt der Sawyer, der eigentlich für militärische Aufklärung zuständig ist. Sein heutiger Auftrag: Inventur. Er fragt die Direktorin, ob sie die Liste mit den Dingen zusammengestellt hat, die sie für ihre Schule benötigt. Freundlich überreicht Khadischa Ali Medschwal ein Papier und fragt, ob es möglich sei, auf der Schulmauer Stacheldraht zu ziehen. Am Ende lässt sie sich lächelnd von dem Soldaten fotografieren. „Für unsere Akten“, erklärt Leutnant Sawyer und verlässt, die Nachhut immer auf seinen Fersen, die Schule, nicht ohne sich noch einmal begeistert über die irakische Freundlichkeit zu äußern.

Die hat allerdings nur einen kurzen Atem. Sobald das Büro leer ist, erstirbt Kadischas Lächeln schlagartig. „Ich hasse es, wenn sie unangemeldet in die Schule kommen“, sagt sie. Beim ersten Besuch seien die GIs noch von Klasse zu Klasse gegangen und hatten, die Gewehre am Rücken baumelnd, die verängstigten Schüler gefragt, wen sie lieber mögen, Saddam Hussein oder George Bush. Die Direktorin erwartet von den Amerikanern seitdem nur noch wenig. Das Papier, auf dem sie Tische, Stühle und einen Fernseher aufgelistet hat, die die Schule braucht, habe sie dem Leutnant schon mehr als zehnmal übergeben. Früher habe sie immer wieder eine neue Liste geschrieben, sagt sie, heute kopiere sie einfach nur die alte. „Es macht keinen Unterschied, da eh nie etwas passiert.“

Die resolute Direktorin ist solche Schwierigkeiten gewöhnt. Auch zu Saddam Husseins Zeiten wurden die Schulen vernachlässigt. Mit der Hilfe von Spenden der Eltern hatte Khadischa es in den vergangenen zehn Jahren dennoch geschafft, eine gut funktionierende Grundschule aufzubauen, wie einige der Eltern bestätigen. Am letzten Schultag kurz vor Kriegsausbruch hatte sie noch einmal alle Kinder auf dem Schulhof versammelt. „So Gott will, sind wir nach dem Krieg noch am Leben und machen mit der Schule weiter“, hatte sie feierlich erklärt.

Als sie vor zwei Monaten ihre verwirrten Schüler das erste Mal wieder vor sich sah, begann sie ihre Rede so: „Der Stuhl des Präsidenten ist frei geworden und ein neuer Mann wird ihn einnehmen, genauso wie es an dieser Schule irgendwann einmal eine neue Direktorin geben wird.“ Dann aber brachte sie die Kinder noch mehr durcheinander: Statt „Ja, ja, ja für unseren großartigen Führer“ zu singen, sollten sie sich in Reih und Glied aufstellen und einfach nur „As-salamu aleikum – Friede sei mit euch“ rufen. Anschließend befahl die Direktorin, aus allen Schulbüchern die erste Seite mit dem Bild Saddam Husseins herauszureißen. Einige Schüler weigerten sich, die für sie fast blasphemische Handlung zu vollziehen. Sie hatten immer noch den alten Slogan „Onkel Saddam ist der Freund aller Kinder, und wir sind die Freunde Saddams“ im Kopf.

Und in den Büchern gibt es noch mehr Überbleibsel des alten Regimes. Deswegen gibt es derzeit an der Nagib-Pascha-Schule keine Heimatkunde. In der Lesefibel finden sich Sätze wie: „Wir lieben dich, Saddam Hussein, du bist für immer unser Schwert, unsere Heimatflagge und unser Retter.“ Neue Schulbücher gibt es immer noch nicht. „Ende des Jahres“, heißt es aus dem Erziehungsministerium hoffnungsvoll.

Auch die Eltern bereiteten Khadischa Kopfzerbrechen. Die hatten plötzlich ein neues Gesicht und begannen alles Alte zu hinterfragen, zum Beispiel die langjährige Mitgliedschaft der Direktorin in Saddam Husseins Baath-Partei. Einige forderten die Absetzung der Schulleiterin. „Ich habe diese Schule nicht für Saddam Hussein, sondern für eure Kinder geleitet“, wehrte die sich.

Erstmals durften die Eltern wählen. Die große Mehrheit entschied sich für Khadischa, einfach weil sie eine gute, durchsetzungsfähige Direktorin ist, von der die meisten glaubten, sie sei die Beste, um die Schule auch durch diese schwierigen Zeiten zu dirigieren. Manche rechneten es ihr wohl auch hoch an, dass sie in den chaotischen Tagen nach dem Krieg zusammen mit zwei bewaffneten Bekannten höchstpersönlich die Bewachung der Schule zum Schutz vor Plünderern übernommen hatte.

Plünderungen waren für ihn nie ein Problem. Er muss auch keine Angst haben, dass irgendwelche Kinder reicher Eltern aus seiner Schule entführt werden. Abdel Razaq Alis Schule liegt in einem schiitischen Armenviertel Bagdads. Über 1.500 Schüler gehen in zwei Schichten in seine Al-Anbariyn-Grundschule, morgens die Jungs und nachmittags die Mädchen. Auch Abdel Razaq hat mit dem neuen Irak zu kämpfen. „Andauernd kommen die Eltern und beschweren sich, aber wo soll ich mich beschweren?“, fragt er.

Besonders missmutig ist der Schulleiter wegen der Renovierung seiner Schule durch das US-Bauunternehmen Bechtel Cooperation. Es ist von der amerikanischen Regierung beauftragt worden, 1.500 Schulen instand zu setzen. Bechtel beauftragte seinerseits 65 irakische Subunternehmer. „Eine wahrlich humanitäres Tat“, heißt es dazu auf der Bechtel-Website (www.bechtel.com): „Von all den Dingen, die wir im Irak machen, hat dieses Programm die größte Auswirkung auf das Leben Einzelner“, wird dort Thor Chritiansen, der Manager des Irak-Schulprogramms, zitiert.

Abdel Razaq kann darüber nur den Kopf schütteln. „Hätte man uns das Geld gegeben, wir hätten es wesentlich besser gemacht“, sagt er. Am Anfang kam die von Bechtel beauftragte irakische Firma Adnan Mussawi und verlangte von Abdel Razaq eine Unterschrift als Bestätigung, dass seine Schule bereits renoviert worden sei. Der Direktor sagte: Erst wenn die Arbeiten abgeschlossen sind. Innerhalb von zwanzig Tagen wurden dann die Wände seiner Schule neu gestrichen, die rostigen Türen übermalt, neue Stromleitungen verlegt und einige sanitäre Anlagen erneuert. Der Schwachpunkt der Toiletten, die Abwasserrohre, wurden in ihrem Zustand belassen, sodass Abdel Razaq davon ausgeht, dass wie jeden Winter das Abwasser weiterhin in den Toiletten stehen wird. Schon jetzt sind die Wasserkästen aus billigem Plastik zum großen Teil zerbrochen. Ein wackliges Geländer, für das die Renovierer sich nicht zuständig fühlten, ist unlängst zusammengebrochen, als sich ein Kind dagegen lehnte und ein Stockwerk nach unten stürzte. Der Direktor ließ das Geländer auf eigene Kosten wieder anschweißen. Am Ende war Bechtels Auftrag erledigt, ohne dass jemals irgendjemand von der Firma vorbeigekommen wäre, um die Arbeit abzunehmen, versichert Abdel Razaq.

Doktor Nabil Chudair Abbas im Zentrum für Planung des Bildungsministeriums, verantwortlich für ein Viertel von Bagdads Schulen, bestätigt Abdel Razaqs Vorwürfe. Bei jedem wöchentlichem Treffen streite er sich mit den Bechtel-Leuten. Deren ganze Arbeit sei nicht transparent, keiner kontrolliere sie, beklagt er sich. Im Erziehungsministerium kenne jedenfalls niemand die genauen Summen, die die US-Regierung an Bechtel bezahlt hat, geschweige denn das Auftragsvolumen für die einzelnen Schulen. Bei den Treffen, sagt Nabil, „scheint es oft so, als sei Bechtel mächtiger als die US-Armee“.

Bei Bechtel will man nichts mehr von den Nörgeleien aus dem Ministerium hören. Das Ganze sei ein Geschenk der US-Steuerzahler, abgesegnet vom Kongress. „Was immer wir machen, die Iraker werden nie verlieren“, meinte ein Bechtel-Vertreter gegenüber Doktor Nabil. Dessen Einwand, dass von den 750 Schulen, für die er verantwortlich ist, 20 im Krieg zerstört wurden und 170 nach dem Krieg aufgrund mangelnder Bewachung der Besatzungsarmee geplündert wurden, interessiert die Vertreter des US-Unternehmens herzlich wenig.

Es ist die Schulglocke, die für Abdel Razaq die ganze Misere symbolisiert. Die alte große Schulglocke, die noch gut funktionierte, wurde abmontiert, und eine neue, kleine wurde aufgehängt – silbern und blitzblank poliert. „Willst du sie mal hören?“, fragt der Direktor und drückt einen Knopf. Der Klöppel kratzt an der Glocke, die einen heiseren, kaum vernehmbaren Ton von sich gibt. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit diesem Ding 1.500 Schüler zurück in die Klassen rufen kann“, sagt Abdel Razaq.

Er hat sich stattdessen etwas Neues einfallen lassen. Nach der Pause geht aus jeder Klasse ein Kind über den Schulhof und sammelt seine Mitschüler ein – in der Hand eifrig eine Bimmel schwingend.