„Das ist mein Baby“

Bei der offiziellen Inbetriebnahme des ersten Drogenmobils sitzt Eva-Maria Scharlippe am Rande. Jahrelang hat die 66-Jährige für Druckräume gekämpft. Sei 1974 wohnt sie im Neuen Kreuzberger Zentrum. Dort lernte sie, dass Junkies Kranke sind

von PLUTONIA PLARRE

Der weiße Mercedes-Transporter in der Jebensstraße hinter dem Bahnhof Zoo ist von einer Menschentraube umringt. „Heute ist ein feierlicher Tag“, sagt Gesundheitsstaatssekretär Herrmann Schulte-Sasse. Schließlich werde mit der offiziellen Inbetriebnahme des ersten Berliner Drogenmobils, in dem sich Abhängige unter ärztlicher Aufsicht ihre Drogen injizieren können, „eine langjährige Diskussion abgeschlossen“. Die Bezirksbürgermeisterin von Wilmersdorf-Charlottenburg, Monika Thiemen (SPD), spricht von einem „großen Schritt für Berlin“. Sie hoffe, dass auch die anderen Schritte – gemeint ist die für Anfang kommenden Jahres vorgesehene Eröffnung von zwei stationären Drogenkonsumräumen in Kreuzberg und Moabit – wie geplant „vollzogen“ würden. Der PDS-Fraktions- und -Parteichef, Stefan Liebig, überreicht der Projektleiterin des gemeinnützigen Vereins Fixpunkt, Astrid Leicht, als Dank für ihr Engagement einen bunten Herbstblumenstrauß. Beifall brandet auf.

Am Rande der Menge sitzt eine korpulente ältere Dame in einem Klappstuhl. Den linken Fuß in einem Gipsverband weit vorgestreckt, eine Hand an der Gehhilfe verfolgt Eva-Maria Scharlippe durch Brillengläser, fast so groß wie Untertassen, das Geschehen. Den Ansturm der Medienvertreter bei der Besichtigung der chromblitzenden Einrichtung des Drogenbusses kommentiert die Frau, die von 1985 bis 1999 für die SPD in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung gesessen hatte, mit den trockenen Worten: „Ick jeh erst später.“ Als die Bahn schließlich frei ist, humpelte die 66-Jährige zum Bus und zieht sich mit einer Kraftanstrengung in den Innenraum. „Das ist mein Baby“, sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht. „Heute ist der Tag, an dem es laufen lernt.“

Eva-Maria Scharlippe gehört zum Urgestein, was den langjährigen Kampf um eine andere Drogenpolitik in Berlin angeht. Anfang der Achtzigerjahre, als das Elend der Junkies auf der Potsdamer Straße und am Kottbusser Tor mit all seinen negativen Begleiterscheinungen für die Anwohner spürbar wurde, war sie schon dabei. „Durch ihre Beharrlichkeit in Kreuzberg“, sagt Astrid Leicht von Fixpunkt voller Anerkennung, „hat sie ganz viel dazu beigetragen, dass wir heute da sind, wo wir sind“.

Dass sie einmal BVV-Verordnete werden und im Bezirksparlament engagierte Reden halten würde, hatte sich die allein erziehende Mutter von vier Kindern – mittlerweile sind vier Enkelkinder dazugekommen – nicht träumen lassen, als die Strickerin 1974 von Britz nach Kreuzberg zog. „Mitten rin ins Chaos“, wie sie damals meinte. Im Vergleich zu der heilen Welt in Britz war Kreuzberg für die Erstbezieherin des Neuen Kreuzberger Zentrums (NKZ) ein regelrechter Kulturschock.

Ihr jüngster Sohn war sieben Jahre alt, als sich rund um „den Kotti“ die Drogenszene immer breiter machte. In den verwinkelten Fluren und Kellergängen des NKZ wurde gejunkt und gedealt, ausgemergelte benommene Gestalten kauerten auf den Treppenstufen. Auf die Frage, ob sie auch einen Toten gesehen habe, holt Eva-Maria Scharlippe tief Luft. „Einen? Viele!“ Im Laufe der Jahre seien im NKZ mindestens 15 Menschen gestorben. „Es war wirklich schlimm.“ Als BVV-Verordnete führte sie Peter Strieder – der damals Kreuzberger Bezirksbürgermeister werden wollte und heute Stadtentwicklungssenator ist – einmal durch das NKZ. „Der war hinterher richtig fertig.“ Aber Folgen für die Drogenpolitik des Bezirks habe das nicht gehabt.

Scharlippe wohnt noch immer im NKZ. Den Kiez hat sie längst lieb gewonnen. Doch ihr Engagement für die Junkies kam nicht von heute auf morgen. Zunächst hat Scharlippe wie viele andere Anwohner auch auf Repression gesetzt. Einmal forderte sie lauthals eine verstärkte Überwachung der Dealer durch die Polizei. Prompt wurde ihr Auto abgefackelt. Auch Drohbriefe habe sie bekommen, sagt die Frau. „Meiner Meinung nach waren das die Dealer.“ Die Erkenntnis, dass es sich bei den Junkies um Kranke handelt, kam später. „Ich musste erst älter werden, um zu begreifen.“ Verstanden hat sie, als sie sich mit den Abhängigen unterhielt, sich ihre Abszesse und Geschwüre vor Augen führte und von dem Schicksal eines Mädchens erfuhr, das auf den Strich ging und bereits von den Freiern ihrer Mutter, die auch eine Prostituierte war, vergewaltigt wurde. „Da ist nichts von Geborgenheit. Das sind ganz arme Schweinchen.“

Richtig aus der Haut gefahren ist sie, als die Kreuzberger CDU 1992 kleine Errungenschaften wie den Spritzenautomaten am Kottbusser Tor wieder abbauen lassen wollte. Scharlippes homosexueller Bruder war damals gerade an Aids gestorben. „Ich bin in der BVV aufs Podium gestiegen und habe von den CDU-Verordneten verlangt, ins Auguste-Victoria-Krankenhaus zu gehen und sich anzusehen, wie Aids-Kranke in den letzten acht Tagen leben und sterben“. Vor zehn Jahren, als in Frankfurt und Hamburg die ersten Druckräume eröffnet wurden, besorgte sie sich von der dortigen Staatsanwaltschaft die Rechtsgutachten. Dass es in Berlin noch so ein langer Weg sein würde, hatte sie nicht gedacht.

Dass sie als „Drogenoma“ beschimpft worden ist, hat Eva-Maria Scharlippe nie gestört. „Wer sich für Junkies einsetzt, braucht ein dickes Fell.“ Der einzige Ausweg, sagt die alte Dame voller Inbrunst, sei eine kontrollierte Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige. „Mein Baby hat laufen gelernt, aber ganz in die Welt entlassen kann ich es noch nicht. Es gibt noch viel zu tun.“