Nie mehr Schlange stehen auf dem Arbeitsamt

Ökonomen wollen Sozialabgaben halbieren – und damit für fünf Prozent mehr Wachstum und Beschäftigung sorgen

BERLIN taz ■ Schlange stehen auf dem Arbeitsamt könnte bald der Vergangenheit angehören. Führende Ökonomen wollen die Bundesanstalt für Arbeit nämlich schlichtweg abschaffen. Sie legen Mitte November in Berlin ein Konzept für einen radikalen Umbau der Sozialsysteme vor. An der Tagung nimmt auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) teil.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Sozialbeiträge von heute gut 42 Prozent auf 20 Prozent sinken könnten. „Beschäftigung und Bruttoinlandsprodukt würden durch diese Reform um jeweils fünf Prozent ansteigen“, sagt Kerstin Witte von der Bertelsmann-Stiftung, die die Studie in Auftrag gab. Die Autoren sind fünf Ökonomen, die wichtige Funktionen in der Politikberatung einnehmen, darunter der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz und der Vorsitzende des Sachverständigenrates für eine konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Eberhard Wille.

Die wohl radikalsten Änderungen schlagen die Experten in der Arbeitslosenversicherung vor. Sie wollen die Versicherungspflicht für Arbeitnehmer ersatzlos streichen. Arbeitslosengeld und -hilfe fallen schrittweise weg. Statt dessen soll der Arbeitgeberbeitrag an die Arbeitnehmer ausgezahlt werden. Letztere sollen dann selbst für die Zeit der Arbeitslosigkeit vorsorgen. Schon durch ein dreijähriges Ansparen der jetzigen Beiträge zur Arbeitslosenversicherung könnten Arbeitnehmer ein halbes Jahr ohne Job durch eigene Ersparnisse überbrücken. Weitere Vorschläge: Die Bundesanstalt für Arbeit wird abgeschafft, die Arbeitsvermittlung privatisiert. Für aktive Arbeitsmarktpolitik sind die Kommunen zuständig. Sie soll aus Steuern finanziert werden.

Auch die Sozialhilfe wollen die Verfasser der Studie radikal umkrempeln. Für arbeitsunfähige Sozialhilfeempfänger ändert sich dabei nichts. Empfänger von Sozialhilfe, die als arbeitsfähig eingestuft werden, sollen nur noch die Hälfte bekommen. Gleichzeitig wird ihnen ein Zuverdienst bis 300 Euro gar nicht und bis 600 Euro nur halb auf die Sozialhilfe angerechnet. Die Kommunen müssen notfalls entsprechende Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor garantieren.

In der Krankenversicherung plädieren die Ökonomen für einen Grundbeitrag von 190 Euro, der nicht vom Einkommen abhängt. Ihn müssen alle Bürger – also auch bisher privat Versicherte – bezahlen. Auch Kinder zahlen 75 Euro; im Gegenzug wird das Kindergeld auf 295 Euro pro Monat erhöht. Dadurch soll die Unterstützung von Familien konsequent in das Steuersystem übertragen werden. Die Pflegeversicherung wird in die Krankenversicherung integriert. Die erste Stufe der Pflegeversicherung soll abgeschafft werden: Gegen das Risiko leichter Pflegebedürftigkeit müssen sich die Bürger künftig privat versichern.

Die Beiträge zur Rentenversicherung werden eingefroren. Was jemand aus der Rentenkasse ausgezahlt bekommt, richtet sich allein danach, wie viel er eingezahlt hat und wann er in Rente geht. Wer erst mit siebzig zu arbeiten aufhört, soll monatlich mehr Geld bekommen, weil er eine geringere Lebenserwartung hat. Die Versicherten könnten also über ihr Renteneintrittsalter selbst entscheiden.

ANDREAS SPANNBAUER