Präventivkrieg mit UNO-Segen?

UN-Ausschuss zur Reform der Vereinten Nationen will Einsatz vorbeugender militärischer Mittel zur Abwehr unmittelbarer Gefahren absegnen

AUS GENF ANDREAS ZUMACH

Reform der UNO – bei diesem Stichwort richten sich seit geraumer Zeit vielfältige, zum Teil durchaus widersprüchliche Erwartungen auf ein Dokument, das nach bisherigen Ankündigungen aus der New Yorker UNO-Zentrale im Dezember veröffentlicht werden soll: der Bericht des 16-köpfigen „Ausschusses hochrangiger Personen“ (High Panel), den UN-Generalsekretär Kofi Annan im Herbst letzten Jahres eingesetzt hatte vor dem Hintergrund der massiven Auseinandersetzungen unter den 191 UNO-Mitgliedstaaten über den völkerrechtswidrigen Präventivkrieg der USA und Großbritanniens gegen Irak.

Annan beauftragte den Ausschuss damals mit einer „rigorosen Analyse der wichtigsten Bedrohungen und Herausforderungen auf dem Gebiet von Frieden und Sicherheit, vor der die Welt heute steht, einschließlich wirtschaftlicher und sozialer Fragen mit Relevanz für Frieden und Sicherheit“. Mit dieser Formulierung wollte der Generalsekretär sicherstellen, dass sich der Ausschuss bei seiner Analyse nicht auf Terrorismus und militärische Bedrohungen wie die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen beschränkt, sondern auch Hunger, Unterentwicklung, Aids oder Umweltzerstörung in den Blick nimmt. Auf Basis seiner Analyse sollte der Ausschuss „Empfehlungen formulieren „für politische und institutionelle Reformen der UNO und des Völkerrechts mit dem Ziel, „die Handlungsfähigkeit der Weltorganisation und die Effektivität kollektiver Maßnahmen zur Überwindung der globalen Bedrohungen zu verbessern“.

Der Entwurf für den Bericht des High Panels liegt der taz vor. Sollte er in den nächsten Wochen keine wesentlichen Änderungen mehr erfahren, was nach Informationen aus dem High Panel als „sehr unwahrscheinlich“ gilt, dürfte der endgültige Bericht bei seinem Erscheinen Befriedigung in Washington auslösen (vor allem, sollte die Bush-Administration am 2. November im Amt bestätigt werden). Die Berliner Koalition dürfte enttäuscht sein. Denn der Entwurf formuliert ein bedingtes Ja zum präventiven Einsatz militärischer Mittel, den die Bush-Administration im September 2002 zum Kern ihrer nationalen Sicherheitsdoktrin gemacht hat. Zum anderen enthält der Entwurf nicht die in Berlin erhoffte klare Festlegung auf eines der denkbaren Modelle einer Reform des UNO-Sicherheitsrats und damit auch nicht die konkrete Empfehlung, Deutschland solle ständiges und Veto-bewehrtes Mitglied des obersten UN-Gremiums werden.

Laut Entwurf soll der präventive Einsatz militärischer Mittel erlaubt sein – auch ohne Ermächtigung des UNO-Sicherheitsrats – zur Abwehr einer „eindeutigen, unmittelbaren Bedrohung“ oder Gefahr“ („clear and present danger“). Die 16 Mitglieder diskutierten bei ihren Beratungstreffen unter anderem das Szenario, in dem ein Staat Massenvernichtungswaffen unzweifelhaft in Abschussstellung gegen einen anderen Staat bringt.

In dem schriftlichen Entwurf sind dieses – oder andere Beispiele – für „eindeutige, unmittelbare Bedrohung“ allerdings ebenso wenig enthalten wie allgemein gültige Definitionen. Auch die entscheidenden Fragen, wer die Kompetenz haben soll, eine derartige Bedrohung festzustellen (der sich bedroht fühlende Staat? der UNO-Sicherheitsrat? andere, eventuell neu zu schaffende Instanzen?), und was geschehen soll, wenn über den Charakter einer Bedrohung Dissens herrscht in der internationalen Staatengemeinschaft, bleiben sämtlich unbeantwortet. Dabei haben gerade die angloamerikanischen Lügen und Manipulationen zur Rechtfertigung des Irakkrieges deutlich gemacht, wie unverzichtbar möglichst präzise Regelungen dieser Fragen wären, wenn man schon die Tür öffnet zu präventiven Militäreinsätzen. So steht zu befürchten, dass der Bericht des Panels nicht nur in Washington, sondern auch bei den Regierungen Russlands und anderer Länder, die inzwischen mehr oder weniger deutlich das „Recht“ auf den präventiven Einsatz militärischer Mittel für sich reklamiert haben, als Bestätigung empfunden wird.

Zum Thema „Reform des Sicherheitsrats“ listet der Entwurf lediglich mehrere denkbare Modelle auf – darunter das bei der Berliner Koalition gar nicht geschätzte so genannte Dreiklassen-Modell. Danach würde neben den bisherigen fünf ständigen, mit Veto ausgestatteten Ratsstaaten und den für zwei Jahre gewählten nichtständigen Mitgliedern eine dritte Kategorie von Staaten geschaffen, die dem Rat für fünf Jahre (ohne Veto) angehören sollen. Die 16 Mitglieder des Ausschusses, die aus ebenso vielen Ländern stammen (darunter aus Brasilien, Indien und Ägypten, die Ambitionen auf einen ständigen Ratssitz angemeldet haben, aber niemand aus Deutschland) konnten sich nicht auf ein Modell einigen und noch nicht einmal darauf, ob überhaupt zusätzliche ständige Ratssitze mit oder ohne Veto geschafft werden sollen. Damit dürfte der Bericht die in eben diesen Fragen seit zehn Jahren festgefahrene Debatte in der UN-Generalversammlung kaum weiter bringen.