Die Alten sollen dem Pott bald Kohle bringen

Das Ruhrgebiet sucht seit langem einen Weg aus der Strukturkrise. Experten plädieren für Gesundheitstechnik und moderne Stadtentwicklung

BOCHUM taz ■ Strukturwandel – für Franz Lehner ist das ein alter Hut. „Das ist doch das Hauptmuster der Weltgeschichte.“ Doch eines habe sich geändert: Wer früher den besten Pflug entwickelte, der konnte sich Jahrzehnte darauf ausruhen. „Heute geht alles enorm schnell“, so der Leiter des Instituts Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen, dass den Strukturwandel im Ruhrgebiet intensiv erforscht. Heute würden technische Innovationen bereits in Monaten um die Welt gehen, längst könne man hochwertige Produkte auch in Entwicklungsländern herstellen. Der Ruhrgebietsexperte plädiert für einen neuen Innovationsbegriff: Das einst größte Industriegebiet Mitteleuropas soll sich auf seine Stärken konzentrieren – die Gesundheitsbranche und eine zukunftsweisende Stadtentwicklung.

Sechs Millionen Menschen leben zwischen Wesel und Unna in einer Stadtlandschaft. Innerhalb von nur zwei Autostunden erreicht man mehr als 30 Millionen Menschen. „Wir haben hier den passenden großen Markt“, wirbt Lehner. Und Spitzenmedizin und Medizintechnik seien kommende Wachstumsbranchen. Rund um die Hochschulen in Dortmund, Witten und Bochum haben sich Maschinenbauer und Spitzenmediziner zusammengetan: „Die Gesundheitsbranche wird in den nächsten Jahren allein im Ruhrgebiet mindestens 20.000 neue Jobs schaffen.“

Die neuen Chancen – das IAT spricht schon schon von einer „Jobmaschine“ – kommen dem Ruhrgebiet gerade recht: Mit einer Arbeitslosigkeit von im Schnitt knapp 13 Prozent, einem raschen Bevölkerungsschwund – alle fünf Jahre verliert das Gebiet rund 100.000 Einwohner – wie der überdurchschnittlichen Überalterung leidet das einstige industrielle Herzstück an den Folgen einer bald fünfzig Jahre anhaltenden Entindustrialisierung. Die drohende Schließung der drei Bochumer Opelwerke und ein Verlust von knapp 10.000 Industrie-Arbeitsplätzen und weiteren bei Zulieferern würden sich da einreihen. Lehner formuliert es drastisch: „Auch die Automobilindustrie, vor allem die von Opel, ist eine Altindustrie“ – auf ausgereiften Märkten konkurrierten Autofirmen vor allem über den Preis.

Genau deshalb wurden schon 1958 erste Zechen im Ruhrgebiet stillgelegt: Der Weltmarkt für Steinkohle hatte sich geöffnet, die Preise fielen drastisch, die deutsche Steinkohleförderung hat seitdem ein immenses Kostenproblem. Nur Milliardensubventionen konnten den Restbergbau aufrechterhalten. Strukturforscher Lehner plädiert für eine postindustrielle Zukunftsvision. Die Warenproduktion verliere weiter an Bedeutung, „wir müssen uns am Lebensstil orientieren“. Der sei dadurch geprägt, dass Menschen altern, dabei aber relativ viel Geld und Zeit zur Verfügung haben. Oder wie es die Wissenschaftler der Privat-Uni Witten fordern: Das Ruhrgebiet könnte zur „Modellregion“ für eine alternde Gesellschaft werden.

Die Voraussetzung dafür hat die Region auch, weil sie polizentrisch verfasst ist. Lehner meint, im Ruhrgebiet könnte weltweit erstmals das Kunststück fertig gebracht werden, eine wirklich moderne wie lebenswerte Stadt zu bilden: „Wir haben hier Raum und Luft dafür.“ In anderen Ballungszentren sei alles zu dicht gedrängt: An der Ruhr könnten Grünflächen entwickelt werden und Altbauten und Innenstädte so saniert werden, dass sich auch Menschen mit gehobenen Ansprüchen darin wohl fühlen. Überhaupt setzt der 58-jährige IAT-Chef die Kaufkraft der Alten gegen die Sorgen der Jungen: „Der Altentourismus wird ein Bombengeschäft“, sagt er – selbst die hoch subventionierte Theaterlandschaft im Revier werde sich dann endlich rechnen. CHRISTOPH SCHURIAN