Die Oma in Hildesheim zählt nicht

Aussiedler klagen vor dem Verfassungsgericht auf freie Wahl des Wohnortes. Sozialhilfeempfängern wird Gemeinde zugewiesen, ungeachtet der Verwandtennetzwerke. Regierungsvertreter: „Dann lernen sie die Sprache schneller“

aus Karlsruhe CHRISTIAN RATH

„Sind Ausssiedler etwa Deutsche zweiter Klasse?“, fragte der 25-jährige Daniel M. gestern vor dem Bundesverfassungsgericht. Gemeinsam mit seiner 57-jährigen Mutter klagte er gegen ein Gesetz, das die Freizügigkeit von Aussiedlern drei Jahre lang massiv beschränkt. Sie bekommen nur in der Gemeinde Sozialhilfe, die ihnen vom Staat als Wohnort zugewiesen wurde. „Wenn man das zum Beispiel mit alten Menschen machen würde, hätten wir wohl eine heftige Diskussion“, sinnierte Verfassungsrichter Paul Steiner.

M. und seine Mutter kamen 1996 aus Russland. Als Wohnort wurde ihnen Elze in Niedersachsen zugewiesen. Zwei Jahre später zogen sie nach Hildesheim, denn dort ging M. zur Schule, dort lebte die Großmutter, und außerdem hoffte Frau M., dort Arbeit zu finden. Folge: Die Sozialhilfe wurde gestrichen. M.s Anwalt Franz Amadeus Dombrowski hält das für verfassungswidrig: „Andere Deutsche erhalten die Sozialhilfe auch an ihrem frei gewählten Wohnort.“

Zwei Millionen Aussiedler kamen seit 1990 nach Deutschland. Auch heute sind es immer noch rund 80.000 pro Jahr. Die meisten von ihnen sprechen kein Deutsch, weil sie nur Angehörige von Deutschstämmigen sind. In der Regel sind die Neuankömmlinge deshalb zunächst auf Sozialhilfe angewiesen. Das umstrittene Gesetz wurde 1996 eingeführt, um die Aussiedler besser im Land zu verteilen. Bei der Zuweisung des Wohnorts können die Betroffenen zwar Wünsche äußern, falls die Quote dort aber erschöpft ist, müssen sie in eine andere Gemeinde ziehen, oft sogar in einem anderem Bundesland.

Der Eingriff in das Grundrecht auf Freizügigkeit wurde anfänglich mit der ungleichen Sozialhilfebelastung der Kommunen begründet. Diese Kosten könnten allerdings relativ leicht umverteilt werden. Vor dem Verfassungsgericht ging es deshalb mehr um die freiwilligen Kosten für Sprachkurse und Integrationsmaßnahmen. Jochen Welt, der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, sprach sogar von „Gefahren für den sozialen Frieden“ und drohender „Ghettobildung“.

Im Mittelpunkt der Verhandlung stand aber Richter Steiners Frage: „Dient das Zuweisungsgesetz der Integration der Aussiedler?“ Die Kommunen sind mit der Regelung jedenfalls zufrieden, wie Gertrud Witte vom Deutschen Städtetag gestern mitteilte: „Die meisten Aussiedler bleiben auch nach drei Jahren am zugewiesenen Ort, weil sie sich eingelebt haben.“

Das sah der evangelische Aussiedlerexperte Matthes Mustroph anders: „Die Leute sitzen oft drei Jahre lang auf gepackten Koffern, vor allem in den neuen Bundesländern. So wird Integration geradezu blockiert.“ Es sei den Russlanddeutschen auch kaum zu erklären, warum sie nicht zu ihren Verwandten oder Bekannten in anderen Städten ziehen dürfen. Gerhard Robbers, der Rechtsvertreter der Bundesregierung hielt dem entgegen: „Natürlich ist es zunächst hart, als einziger Aussiedler in einer Landgemeinde zu leben, aber die Sprache lernt man so sicher schneller.“ Ob das Zuweisungsgesetz gegen das Grundgesetz verstößt, wird das Verfassungsgericht voraussichtlich Anfang nächsten Jahres bekannt geben.