Das Karma von Frau Schmidt

Wo wollene Kleidung, Trampolinspringen und Aura-Fotografie gegen die unerträglich offenen Fragen in Stellung gebracht (und nie bemerkte Zipperlein auch nicht kuriert) werden: Ein Besuch bei der „Lebensfreude Messe“ in Hamburg

VON ROGER REPPLINGER

Fangen wir mit einem Geständnis an: Mein Karma ist wie der Rest. Schlecht. So wie bei Frau Schmidt, der Fotografin. Jetzt ist es raus.

Die Tatsache, dass man vor Betreten von Deutschlands erklärtermaßen „erster und größter Messe für Gesundheit, Ökologie und Spiritualität“ am vergangenen Wochenende im Hamburger Congress Centrum acht Euro entrichten muss, spricht nicht gegen die Esoterik. Das nicht. Auch der Geist, und diejenigen, die von ihm leben, müssen essen. Selbst wenn man es den Hageren hier nicht immer ansieht.

„Gut fürs innere Kind!“, ruft eine Frau die Trampolin springt, immer wieder: „Gut fürs innere Kind!“ Leises Trommeln und viele Gerüche wehen durch die Halle. „Warum lässt Gott das zu? Katastrophen und Unglücksfälle, Krankheit und Leid. Was steht der Menschheit bevor?“, fragt ein Plakat, um dann die Apokalypse heraufzubeschwören. Gute, alte Apokalypse. Wirkt immer noch. Vor allem, wenn man ein Rezept gegen sie hat. Wenn wir aber das Rezept anschauen, welches hier angeboten wird, dann wählen wir die Apokalypse.

Von der Krise der Moderne

Der Esoterik-Branche, der geht es gut, wenn es den anderen Branchen schlecht geht. Ja, sie ist ein Krisengewinnler. Aber es ist nicht die jüngste Wirtschaftskrise, von der sie profitiert, sondern die seit Jahrhunderten bereits währende Krise der Moderne, die sich in allen möglichen Gewändern präsentiert: Merino, härene Wolle, orangefarbene Hosen, in Uniformen, nackt. Oder wie in der „Yoga-Lounge“: Da sitzen Menschen ohne Schuhe auf dem Boden, in gelbe Decken gehüllt, und meditieren.

Das Kennzeichen der Moderne ist die Entzauberung: Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Weltalls, die Sonne dreht sich nicht um die Erde, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung und ein Vernunftwesen ist er auch nicht. Und Gott? Auf alle Fragen, die sich daraus ergeben, gibt die Esoterik Antworten. Die mögen falsch sein. Aber so eine falsche Antwort ist leichter auszuhalten als eine offene Frage.

Ja, die Moderne ist kalt und entzaubert, und das ist schwer zu ertragen. Das Problem des Versuchs, sie noch mal zu verzaubern, ist: Es geht nur mit denselben Mitteln, die zu ihrer Entzauberung geführt haben. Technik zum Beispiel. Deshalb gibt es auf der „Lebensfreude Messe“ auch so viele Stände mit „Aura-Fotografie“, und überall eine Mischung aus Technokratie und Irrationalität. Geht zusammen, weil beides eine Angelegenheit des Glaubens ist. Es gibt aber auch Schuhe, Kleider, Essen, Reisen, Kunst, Kosmetik, Massagebänke, Wildschweinborstenbürsten, Reiki. Wo ja sonst immer so viel von Parallelwelten die Rede ist: Das hier ist eine. Und zwar eine schräge Parallelogrammwelt.

„Auch Du kannst geheilt sein und selbst zum Heiler werden“: Berufsfindung ist auch ein wichtiges Thema. „Geistheilen als Beruf“, steht an einem Stand. Ein Handwerk, das sozusagen über seinem goldenen Boden schwebt.

Lebenshilfe, nicht Produkt

Die Moderne ist ja auch dadurch gekennzeichnet, dass die Dinge nicht das sind, was sie sind, sondern zugleich ihr Gegenteil. Das Wasser aus der Leitung ist vergiftet, das Esoterische ist eine Arznei. Deine Schuhe sind schlecht für Dich, mit einem esoterischen Schuh springt jeder Lahme. Steine auf dem Acker sind Mist, sie können aber heilen. Die Luft da draußen ist vergiftet, aber die Luft des Raums, in dem der Guru weilte, ist pure Kraft.

Hier werden alle wichtigen Themen verhandelt: Sex, Liebe, Erfolg, Kindererziehung, Ernährung, Glück, Alter. In diesem Gewerbe, das davon lebt, Steine, Wasser, Luft und schlecht gemalte Bilder zu verkaufen, kommt es auf das Geschick des Verkäufers an. Und auf den Glauben des Käufers. Es wird ja auch nicht bloß ein Produkt verkauft, sondern die Lebenshilfe, die mit dem Produkt verbunden ist: Wenn die Dinge, die es hier zu kaufen gibt, etwas bewirken, dann, weil die Käufer an sie glauben.

Diesen Glauben auf das Wasser, die Luft und den Stein zu richten, das ist die Aufgabe der Verkäufer. Sie vermitteln zwischen dem Dies- und dem Jenseits, zwischen Sinnlosigkeit und Sinnstiftung, Krankheit und Heilung, Unglück und Glück. Die Methode der Esoterik besteht darin, diese Differenz zwischen den Welten zu dramatisieren und sie dann zu überwinden.

Da ist ein Stand, der verkauft Energiebilder für „Liebe und Partnerschaft, Gesundheit und Lebensfreude?“ – „Sie müssen sich ins Schwitzen bringen“, sagt der Verkäufer, „dann gehen die Verstopfungen weg.“ Es handelt sich freilich um Verstopfungen im übertragenen Sinne. Überhaupt: Die Esoterik überträgt vieles.

Eine Frau, Mitte Fünfzig, aus deren Haaren langsam die Färbefarbe herauswächst, nickt. „Suchen Sie sich jemand, der ihnen Feuer unterm Hinter macht“, sagt der Verkäufer und hat das richtige Energiebild schon in der Hand. „Ja“, sagt die Frau und nimmt ihre Brille ab. „Gehen Sie aus sich heraus“, fordert der Verkäufer. „Ja“, sagt die Frau und sucht in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie.

Als wir an einem Stand vorbeigehen, an dem aus der Hand gelesen wird, ruft der Handleser mit der Lupe in der einen und der Hand einer Frau in der anderen Hand gerade: „Glücksträhne für drei Monate!“ Und schon ergreift der Mann mit der Lupe eine zweite Frauenhand: „Hier ist die Luft raus“, sagt er nun. „Ganz raus.“

Etwas weiter praktizieren fünf ältere Damen in weiß-orangefarbenen Kleidern mit rätselhaften Handbewegungen eine Prana-Heilung nach Choa Kok Sui – an fünf weiteren älteren Damen. Es würde niemand merken, wenn sich die Patientinnen erheben würden, um die Heilerinnen zu heilen. Die Kleider machen den Unterschied.

„Manche merken auch was“

Mein schlechtes Karma macht sich bemerkbar, als ich falsches Deutsch lese: „Die moderne Wissenschaft hat zuletzt festgestellt, dass alle Dinge, sei es ein Tier, Gemüse oder ein Mineral, eine spirituelle Strahlung abgibt.“

Frau Schmidts schlechtes Karma führt dazu, dass sie auf dem Sessel von Herrn Winkel – „bekannt durch Presse, Funk und Fernsehen“ – Platz nehmen muss. Prompt wird ihr ein Beckenschiefstand diagnostiziert. „Ich wende jetzt meine Kraft und Energie an“, droht Herr Winkel, der schon dank seines Gewands etwas hermacht. „Manche Leute merken auch was“, sagt er. „Mach mal die Augen zu“, fordert er Frau Schmidt auf, „und die Hände so halten.“ Frau Schmidt macht die Augen auf, hält die Hände so, und macht die Augen wieder zu. Dann ein paar Sekunden Ruhe. Herr Winkel konzentriert sich. Für einen Moment besteht die Chance, dass Frau Schmidt einschläft. Dann klatscht Herr Winkel in die Hände: „Hat’s weh getan?“ Frau Schmidt schüttelt den Kopf.

Herr Winkel, der Rücken-, Kopfschmerzen, Heuschnupfen und Neurodermitis, Mensch und Tier heilt, „Suchtentwöhnung aller Art“ anbietet sowie Besetzungen beseitigt – und damit sind nicht Hausbesetzungen gemeint –, prüft das Ergebnis seiner Arbeit an zwei Aufklebern, die er an den Schuhen von Frau Schmidt angebracht hat. „So viel“, zeigt er mit den Fingern, sei das Becken von Frau Schmidt schief gewesen. „Und nun gerade“, behauptet er, „und zwar ein Leben lang.“ So richtig beeindruckt ist Frau Schmidt nicht. Das ist wohl ihr Karma. „Sie merken das gleich beim Gehen“, verspricht Herr Winkel, „oder auch ein bisschen später.“ Wie kalt muss die Welt sein, wenn so der Versuch aussieht, sie zu wärmen?