Graue Panther im Wellnessland

Wer alt und krank wird, droht leicht abzustürzen. Krankheit macht einsam, und Vereinsamung macht noch kränker. Die Fähigkeit zu entspannen und moderater Sport sind eine hervorragende, leider oft zu teure Gesundheitsvorsorge

von CHRISTEL BURGHOFF

Die Senioren hierzulande sind in den Schlagzeilen, als würden sie das Bruttosozialprodukt verbraten. Senioren gehen auf Kreuzfahrt und ins Heukraxenbad, sie leisten sich Ayurveda oder die Kur Royal. Trotz leerer Rentenkassen überwintern sie unter der Sonne, sie suchen die Kurorte heim und lassen kein Verwöhnangebot aus. Böse Worte und scheele Blicke verfolgen die Grauen Panther im Wellnessland. Müssen Damen um die siebzig wie Vierzigjährige daherkommen? Wofür brauchen Achtzigjährige Hüftgelenke? Leute, wollt ihr ewig leben?

Was dem Ruheständler nachgetragen wird, das ist dem deutschen Kur- und Bäderwesen nur recht. Dank der Wellnessmode gab es Innovationen und neuen Auftrieb. Wie eine Riesenwelle schwappte Wellness aus der Neuen Welt nach Europa herüber und erfasste selbst totgeglaubte Kurbäder und ihre geriatrische Klientel. Qui Gong, Sauna, Jacuzzi, Kleopatrabad, Gute-Laune-Snacks: Jedes noch so kleine Kurbad kommt heute wie ein Bauchladen der großen, weiten Welt daher. Marode Kurorte erblühten in neuem klassizistischem Glanz und bergen modernste Gesundheitsanlagen. Ohne Spa, Vitalcenter, Beautyfarm, High-Tech-Fitnesscenter kein neues Ferienhotel. Egal ob es nun gesundheitlich hilft oder nicht: Angeboten wird alles, was Interesse und Gewinn verspricht.

Das sind in der Tat Innovationen. Und die blieben nicht ohne Lob. Lob für die Kurbäder, die sich mit dieser Flucht nach vorn aus der Existenzkrise retteten, in die sie die Seehofer’sche Gesundheitsreform von 1996 gestürzt hatte. Damals, als die öffentlichen Zuschüsse zu den Kuren wie die Kuren selbst drastisch gekürzt wurden und die Rentenversicherer massenhaft Betten abbauten, musste man sich neu orientieren. Vor allem die frisch renovierten Traditionsbäder der Ex-DDR standen plötzlich ohne die erwarteten Gäste dar. Man schwang sich auf die Wellnesswelle und setzte auf Selbstzahler im Gesundheitsbereich. Immerhin hat Deutschland über 300 moderne Gesundheitszentren, über 50 heilklimatische Kurorte, 48 Seebäder, 62 Kneipkurorte und mehr als 160 Mineral- und Moorheilbäder. Alle wollen irgendwie überleben. Ganz falsch kann es also nicht sein, wenn sich gesundheitsbewusste Menschen auf den Wellnessbereich einlassen. Die Selbstzahler von heute stopfen die Lücken öffentlicher Sparpolitik, sie erhalten das traditionelle Kurwesen am Leben. Allen voran die Senioren in ihrer Treue zum Urlaub in Deutschland.

Für Wellness sprechen vor allem gesundheitliche Gründe: Es gilt als gute Strategie für körperlich-seelisches Wohlbefinden. Zahllose Mediziner atmeten auf, als der Wellnesstrend den leistungsorientierten und kräfteverschlingenden Fitnessboom der Achtzigerjahre ablöste. Denn Wellness heißt nicht nur Konsum verführerischer Verwöhnangebote, sondern auch Stressabbau, Bewegung und Selbsttätigkeit. Etwa Radfahren, das hierzulande zu einer wichtigen Urlaubsform wurde. Im Zuge des Wellnesstrends wurde vieles aktiviert, was selbstverständlich sein sollte – aber im Alltag schnell vergessen ist. Köperkult, Jugendwahn, der Hedonismus der Unersättlichen und das große Geschäft mit den Heilsversprechen der Heilmittelchen – das ist die eine Seite der Wellnessmedaille. Die andere Seite ist: möglich gesund zu bleiben bis ins Alter, die Gefahr zu reduzieren oder herauszuschieben, wegen Krankheiten der teuren Apparatemedizin und der anonymen Betreuung überantwortet zu werden.

Die Grauen Panther im Wellnessland machen mobil: Wo das soziale Netz dünn und löchrig wird und die Jungen wenig Interesse an Versorgungsleistungen zeigen, ist ein einiges Kollektiv im Bademantel bereit, den Zipperlein des Alters zu trotzen.

Und das tut Not. Denn wer alt und krank wird, droht leicht abzustürzen. Krankheit macht einsam, und Vereinsamung macht noch kränker. Alarmierend etwa sind die Suizidzahlen in der Folge von Depressionen. Die einschneidenden Lebensveränderungen beim Übergang in den Ruhestand und Krankheiten gefährden hierzulande vor allem Männer über 60 Jahre. Sie weisen die höchste Selbstmordrate auf. Ob es uns gefällt oder nicht: Die Industrienationen werden immer älter. Experten sind sich sicher, dass körperliche Bewegung und Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber unserer ergrauenden Gesellschaft jede Menge Frust und persönliches Elend ersparen. Die Fähigkeit, zu entspannen, und moderater Sport sind eine hervorragende Gesundheitsvorsorge. Bedauerlich nur, dass Wellness auch ins Geld geht. Nur wer genügend hat, kann sich das Verwöhnen auch leisten. Um wie viel schöner wäre das schöne Wellness auf Rezept – für alle!