GEORGIEN: DER STREIT UM DIE WAHLEN STÄRKT DAS PARLAMENT
: Enklave der Demokratie

Georgiens größter Sohn, Sowjetdiktator Jossif Stalin, prägte die Formel: Wichtig ist, wer zählt, nicht, wer wählt. Daran hat sich in Eduard Schewardnadses Georgien nicht viel geändert: Die Traditionen des Kaukasus und das Erbe der Moskauer Dominanz lasten schwer auf dem jungen, vom Zerfall bedrohten Staat. Eine fragmentierte Gesellschaft und eine bettelarme Bevölkerung bilden das Fundament, auf dem Clans ihre Vorherrschaft sichern – allen voran der des Präsidenten.

Dennoch sind die Georgier an Erfindungsgeist und Lebendigkeit kaum zu überbieten. Auch das zeigen der Wahlbetrug und seine Folgen. Zunächst protestierte die Opposition lautstark, dann setzte sie sich mit der Führung an einen Tisch – und verhandelte die Wahlergebnisse nach. Resultat: Die fragile Regierungskoalition verzichtet auf ihre erschwindelte Mehrheit, tritt einige Prozente an die Widersacher ab und erklärt jenen Gegner Schewardnadses zum Sieger, der diesen zwar genauso hasst wie der Rest der Opposition – ihn gleichzeitig aber braucht, um weiter in seiner fast unabhängigen Provinz Adscharien herrschen zu können.

Das demokratische Fundament Georgiens funktioniert also so: Einerseits ist man streitbar; andererseits ist alles verhandelbar. Dabei jedoch mangelt es den oppositionellen Protagonisten untereinander an Vertrauen. Schließlich kennt man sich schon länger. Die Chefs der Klientel- und Klüngelparteien sind allesamt abgefallene Getreue Schewardnadses. Adschariens Abaschidse etwa meidet die Hauptstadt seit zehn Jahren – aus Angst vor Anschlägen. Aber: Trotz aller Untergangsstimmung und Häme hat der leidenschaftliche Kampf um das politisch eigentlich bedeutungslose georgische Parlament etwas Symbolisches, das über die Wahlen an sich hinausweist. Die vom Patriarchen als Soziotop eingerichtete Volksvertretung wird von Abgeordneten und tausenden Demonstranten offensichtlich als Enklave einer formalen Demokratie ernst genommen. So ernst, dass Pantokrator Schewardnadse die gezinkten Karten auf den Tisch legen musste. Wenn das nichts ist.

KLAUS-HELGE DONATH