Osten: Schrumpfen als Chance?

JA
Nur wer sich mit Schrumpfung auseinander setzt, findet Antworten auf die Probleme der Wachstumsphilosophie.

Mein Sohn ist sechs. Und er wächst. Langsam. Das wird noch eine ganze Weile so gehen. Was aber folgt dann?

Die Natur hat es so eingerichtet, dass Wachsen und Schrumpen, Erschaffen und Zerfall im Gleichgewicht stehen. Nie war Gesellschaft so von einer einzigen Idee geprägt, wie es die heutige, die hoch industrialisierte, spätkapitalistische ist: vom Glauben an das Heil, das in Wachstumsraten liegt. Um Wachstum dreht sich heute alles. Die Leistung eines Unternehmers wird am prozentualen Gewinn gemessen, der Erfolg einer Regierung an der Steigerung des Bruttoinlandsproduktes, die Popularität eines Fußballvereins am Mitgliederzuwachs. Und weil der Osten Deutschlands in den letzten 14 Jahren einfach nicht so wuchs, wie er sollte, wird nur noch er als Problem wahrgenommen.

Wie stark die Gesellschaft nach diesem Wachstum giert, macht sie in ihrem Sprachgebrauch deutlich. Schrumpfung wird – ganz nach Orwells Neusprech – als Negativwachstum bezeichnet oder allenfalls mit dem Präfix „gesund“ benutzt: gesundschrumpfen.

Exbundespräsident Herzog hat erst kürzlich wieder an die ideologische Grundfeste der kapitalistischen Lebenswelt erinnert. Die nach Herzog benannte CDU-Kommission hatte ein Konzept zum Umbau der Sozialversicherungen vorgelegt. Herzog erklärte, das Konzept funktioniere nur bei „Wachstum, Wachstum, Wachstum“. Außer einer Demonstration gegen Sozialabbau hatte die Linke dem nichts entgegenzusetzen. Und der Kanzler sah sogar eine mit Herzog „weitgehend gemeinsame Analyse“. Wir sind offenbar zum Wachsen verdammt. Was aber, wenn nichts mehr wächst?

Zum Glück gibt es den Osten. Vom Altersdurchschnitt bis zum Arbeitsaufkommen, von der Bevölkerungszahl bis zum Inteligenzquotienten, von der Kaufkraft bis zur Zahl der Schulen – seit mehr als zehn Jahren schrumpft die ostdeutsche Gesellschaft. Sicherlich: Wachstumszentren wie Jena, Dresden, Leipzig, Potsdam oder Rostock heben den ostdeutschen Durchschnitt. Das ändert aber nichts daran, dass sich die Menschen in der Altmark, in der Lausitz oder in Mecklenburg mit dem Schrumpungsprozess arrangiert haben.

Eine Chance für die Linke: Wer Alternativen zur Wachstumsphilosophie anbieten will, muss sich mit Schrumpfung auseinander setzen. Der Osten ist dafür quasi das Labor: Hier kann man studieren, wie Kommunen funktionieren, deren Etats immer nur sinken. Wie Nahverkehr, Energieversorgung, Postzustellung funktionieren, wenn immer weniger Kunden da sind. Wie sich der Arbeitsbegriff verändert. Es ist nicht zu erwarten, dass bereits die Analyse zu neuen Denkansätzen führt. Die aber benötigen diese Analyse.

War es nicht der Bericht des Club of Rome, der der Linken vor 30 Jahre aufhorchen ließ? Nachhaltig, gerecht, sozialverträglich – man braucht dieses „mit Schrumpfung befassen müssen“ aber gar nicht mit linken Attributen begründen. Einfache Mathematik reicht. Legt man 2 Prozent Wachstum zugrunde, bedeutet dies, dass Deutschlands wirtschaftliche Produktion sich in den letzten 35 Jahren verdoppelt hat. Binnen 70 Jahren, also etwa seit dem Krieg, führt ein solches Wachstum zur Vervierfachung. Denkt man 350 Jahre voraus, wird sich im Jahre 2353 die heutige Wirtschaftsleistung vertausendfacht haben.

Dass Wachstum über kurz oder lang nicht mehr die Grundlage der Gesellschaft sein kann, liegt wohl auf der Hand. Die Frage ist also nicht so sehr, wann Schrumpung das Leben bestimmt. Sondern wie man darauf vorbereitet ist. Wenn der Westen bereit ist, aus der Schrumpfung im Osten zu lernen, muss mir um die Zukunft meines Sohnes nicht bang sein. NICK REIMER

Fotohinweis: NICK REIMER, 37, ist taz-Redakteur für Wirtschaft und Ökologie. Der gebürtige Sachse war bis 2001 Ostdeutschland-Korrespondent dieser Zeitung.

NEIN
Trotz Krise ist der Westen keine schrumpfende Gesellschaft. Deshalb kann er vom Osten auch nichts lernen.

Der Osten als Avantgarde: Hatten wir das nicht schon mal? Mit einer bemerkenswerten Fähigkeit, die Realität auszublenden, schwärmte die DDR-Führung bis zum bitteren Ende von der Überlegenheit des eigenen Systems. Mehr als ein Jahrzehnt haben Sozialwissenschaftler nun gebraucht, um mit einem ähnlich abgehobenen Konstrukt den Vorsprung wiederherzustellen. Das Schrumpfen des Ostens – wirtschaftlich, demografisch, städtebaulich – wird uns nun als Vorbild verkauft, dem der Westen wohl oder übel nachzueifern habe.

Richtig daran ist: Der Osten schrumpft, und seinen Bewohnern geht es in der Tat umso besser, je mehr sie diesen Prozess innerlich angenommen haben. Vorbei sind jene trüben Zeiten, als junge Männer und Frauen in vorpommerschen Kleinstädten auf den Großinvestor aus dem Westen warteten. Den meisten ist längst klar: Dieser Investor wird nicht kommen. Deshalb sind die Mobileren und Jüngeren längst in die westdeutschen Wirtschaftszentren abgewandert.

Die zurückgebliebenen Bürgermeister versuchen, den Rückgang zu verwalten. Sie reißen Plattenbauten ab, schließen Schulen und Kitas, setzen auf die verbliebenen Wirtschaftszweige wie Altenpflege und Tourismus. Wo dieser Strukturwandel mit dem Argument abgelehnt wird, man wolle nicht „im Baströckchen“ Fremde bedienen, bleibt die Stimmung schlecht. Wo sich die Leute darauf einlassen, können sie im Hier und Jetzt ankommen.

Aber was soll der Westen daraus lernen? Gewiss, auch dort wird manche Schule geschlossen, wird manch städtebaulicher Missgriff durch Abriss beseitigt. Aber wird deshalb aus einem Land, das sich trotz aller Unkenrufe noch höchst dynamisch präsentiert, schon eine schrumpfende Gesellschaft?

Seit Jahrzehnten erleben die Regionen zwischen Rügen und Erzgebirge nun einen ununterbrochenen Exodus der gesellschaftlichen Eliten, der psychisch und physisch mobilsten Teile der Bevölkerung, der Engagierten und Unangepassten. Damit verglichen ist die bisweilen aufgebauschte Auswanderung westdeutscher Experten etwa in die USA höchst marginal – und wird es wegen der Kultur- und Sprachbarriere auf absehbare Zeit auch bleiben.

In westlichen Wirtschaftszentren wie München oder Stuttgart, Frankfurt oder Düsseldorf ist „Schrumpfung“ ohnehin ein Fremdwort. Mieten und Immobilienpreise, im Osten im freien Fall, bewegen sich dort nach wie vor auf der Umlaufbahn der Sterne. Allem Krisengerede zum Trotz herrscht bei einer Arbeitslosenquote von rund 5 Prozent fast Vollbeschäftigung – zumindest bei Kräften mit abgeschlossener Ausbildung.

Im Vergleich zu anderen Regionen haben diese Städte auch die größten Chancen, den Rückgang der Bevölkerung durch Zuwanderung aus dem In- und Ausland auszugleichen. Das haben sie neben ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft auch dem Umstand zu verdanken, dass sie Neubürgern weit aufgeschlossener begegnen als die einst geschlossene Gesellschaft der Ex-DDR. Freilich profitieren sie auch von dem Prinzip, dass nichts so erfolgreich ist wie der Erfolg – frei nach dem Bibelwort: „Wer da hat, dem wird gegeben werden.“

Aber ist nicht auch der Westen, fragt jetzt die Avantgarde, in der wirtschaftlichen Krise? Wohl wahr, aber gerade die Krise wird den Gegensatz verschärfen. Eine Rentenkürzung um wenige Prozentpunkte ist für die meisten westdeutschen Ruheständler längst keine schmerzhafte „Schrumpfung“, schließlich verfügen sie zumeist über weitere Einnahmequellen. Im Osten sieht das völlig anders aus – und auch die wirtschaftlichen Folgen sind weit größer, trägt doch die staatliche Rentenkasse hier ganz wesentlich zur allgemeinen Kaufkraft bei. Nimmt man die krasse Kürzung bei der Arbeitslosenhilfe noch hinzu, sieht die Zukunft vollends düster aus. Bislang konnte der Osten nur deshalb auf kommode Weise schrumpfen, weil der Westen dafür zahlte.

Allenfalls in einem Punkt halten Ost und West tatsächlich einen gemeinsamen Negativrekord: Niemand vermag mit einer solchen Ausdauer zu jammern wie die Deutschen. Trotz des materiellen Wohlstands zählen sie nach Umfragen zu den unglücklichsten Menschen auf der Welt. Wahrscheinlich nährt sich vor allem aus dieser Quelle die Hoffnung, wenigstens im gemeinsamen Niedergang könnten die Deutschen bald wirklich vereint sein. RALPH BOLLMANN

Fotohinweis: RALPH BOLLMANN, 34, ist Inlandsressortleiter der taz. Im Südwesten aufgewachsen, lebt er seit elf Jahren in Berlin – mal im Osten, mal im Westen.