Wetterkunde
: Verteidigung der Wolken

Wetterkunde müsste eigentlich Metaphernkunde heißen. Denn, dass an Bremens Himmel Wolken stehen, ist offenkundig. Es bedarf keiner weiteren Kunde oder Erläuterung – und fällt deshalb ins Politikressort (siehe Seite 21). Wie aber mit Wolken leben? Das ist eine Frage, die über’s Wissen davon, dass sie eben da sind, hinausgeht. Bedeutsam ist sie trotzdem – gerade für wolkenreiche Landstriche. Dass die Wolke häufig da ist, entzieht sie nämlich der bewussten Wahrnehmung. Das heißt umgekehrt: Sie hängt im Unbewussten fest – als mentale Dauerbewölkung, auch bei klarem Himmel. Das schwebende Wasser-Gas-Gemisch ist, so gesehen, eine gesellschaftliche Tatsache. Ein Politikum, dem die Politik – bezeichnenderweise gibt es weder eine Deputation noch einen Senator für Wolken und Niederschlag – nicht gewachsen ist. Das ist misslich, weil es einen breiten Konsens darüber gibt, dass der Bremer Himmel stets bedeckt ist. Wer anderer Meinung ist, ist kein Bremer: Deshalb wird auch so oft über’s Wetter geredet – um sich der Gesprächsgrundlage und der moralischen Grundkategorien zu vergewissern. Das Wetter ist gut. Oder eben schlecht. Viele Menschen mit oberflächlicher Wolkenerfahrung halten die Dunstkörper für schlecht. Einerseits, weil sie die Sonnenscheibe bei bedecktem Himmel nicht mehr deutlich erkennen können. Andererseits kann man eine Wolke gar nicht so leicht anfassen – das macht sie suspekt. Genau betrachtet sind Wolken allerdings weder nur schlecht, noch nur gut. So hat jede Wolke innen drin aber auch außen am Rand eine ultrakomplexe Struktur, an der sich ein Zahlenfetischist bis zur Rente austoben könnte: Wolken sind Individualisten. Und wer eine Wolke teilt, hat am Ende zwei völlig neue: Das macht sie, ähnlich wie etwa Brot oder Wein, zum Bild der Einheit von Vielheit. Außerdem ist die Wolke ein Diffusor: Zwischen Sonne und Erde geschaltet, sorgt sie zwar für ein punktuelles Absinken der Lux-Zahl. Aber dafür wird das Licht – das ist die reine Wahrheit, und jeder, der eine matte Glühbirne besitzt, weiß das – viel breiter gestreut, als ohne Wolke. Manche behaupten gar, dass die Sonne ohne Dunst unerträglich wäre. Wie dem auch sei: In jedem Fall ist es besser, wolkig zu bleiben, als über die Dunkelheit zu klagen.

Benno Schirrmeister