Mit der Flasche Bier in der Hand

In Australien kämpfen Athleten um die Rugby-WM. In Hennigsdorf sieht dieser Sport anders aus: leicht übergewichtig

Um die Bedeutung eines Sportereignisses zu unterstreichen, verkünden die übertragenden Sender gern, dass das gezeigte Sportevent nach Olympia und dem Fußball-Worldcup das drittgrößte der Welt ist. Das war bei der Leichtathletik-WM in diesem Jahr so. Auch von der Tour de France wird solches gern behauptet. Derzeit findet in Australien die Rugby-Weltmeisterschaft statt und wieder – diesmal vom veranstaltenden Weltverband – wurde verkündet, der Wettbewerb stehe an Position drei im Ranking der größten Sportereignisse. Vor vier Jahren wurde schon die gleiche Behauptung um den Globus geschickt, was im Rugby-Entwicklungsland Deutschland allerdings kaum wahrgenommen wurde. Das ist in diesem Jahr ein wenig anders. Erstmals werden die WM-Spiele live übertragen. Das DSF sicherte sich die Rechte und ist mit den etwa 100.000 Zuschauern, die sich ein Live-Spiel um 8.30 Uhr ansehen, ganz zufrieden.

„Hast du Neuseeland gesehen? Unglaublich oder?“ Nördlich von Berlin, in Hennigsdorf versammeln sich am Samstagnachmittag etwas 60 Männer und Frauen, um über Rugby zu reden. Sie sind Rugbyfans. Ihr Verein, der SV Stahl Hennigsdorf, tritt an diesem Tag gegen den FC St. Pauli in der zweiten Rugbybundesliga an.

Dass das, was in der zweithöchsten deutschen Spielklasse geboten wird, nur wenig mit dem Rugby zu tun hat, wie er derzeit auf der anderen Seite der Weltkugel gespielt wird, kann man schon beim Aufwärmtraining der Teams sehen. Da machen sich ein wenig übergewichtige Männer neben teilweise äußerst schmächtigen Erscheinungen warm. Durchtrainierte Spitzensportler sehen anders aus. „Zweite Bundesliga. Das hört sich gut an, heißt aber im Rugby noch gar nichts“, sagt Wolfgang Götsch. Götsch ist so etwas wie das Urgestein der Hennigsdorfer Rugby-Geschichte, ehemaliger Spieler und Trainer der Mannschaft. Hätte ihn nicht eine Herzklappenoperation vor fünf Jahren ein wenig ausgebremst, er würde wahrscheinlich immer noch an der Seitenlinie stehen.

Seit 1948 wird in Hennigsdorf Rugby gespielt. Erwin Thiesies, ein ehemaliger Nationalspieler aus Berlin, siedelte sich nach dem Weltkrieg in Hennigsdorf an, scharte eine Gruppe von 50 Rugby-Begeisterten um sich und schloss sich mit seinen Spielern der BSG Stahl Hennigsdorf an. Es war die Geburtsstunde der späteren Hochburg des Rugbysports in der DDR. Stahl Hennigsdorf holte insgesamt 27-mal die Meisterschaft. Wolfgang Götsch war beinahe von Anfang an dabei. 15-mal holte er als Spieler den Titel, 11-mal als Trainer der Mannschaft. Der 20-fache DDR-Nationalspieler wurde 1977 mit dem Titel „Meister des Sports“ ausgezeichnet, worauf er bis heute sehr stolz ist. Denn meistens seien nur Sportler ausgezeichnet worden, die mit ihren Olympiamedaillen das Ansehen des Staates gesteigert hätten. „Für Rugbyspieler ist das schon eine ungewöhnliche Auszeichnung“, so Götsch. Nach der Vereinigung gelang den Hennigsdorfern zweimal der Sprung in die erste Liga. Jetzt hat sich der SV Stahl in der zweiten Spielklasse etabliert.

Das Spiel auf dem Platz plätschert ein wenig vor sich hin. Auffälligster Akteur ist der Hennigsdorfer Schlussspieler Heiko Haase, der vor allem als Kicker überzeugen kann. Am Ende steht es nach zwei Versuchen für die Berliner Vorstädter 17:0. Es bleibt bei nur einer Niederlage in dieser Saison. Das bedeutet Tabellenplatz zwei.

Einige Spieler haben schon eine halbe Minute nach Spielende eine Flasche Bier in der Hand. Es wird über den Schiedsrichter gelästert. Götsch nimmt ihn in Schutz: „Der pfeift doch auch nur zweimal im Jahr. Wie soll er denn da Erfahrung sammeln?“ Rugby in der zweiten Bundesliga ist reiner Freizeitsport. „TV 5 überträgt morgen früh.“ Die Spieler freuen sich schon auf den nächsten Tag, auf die Übertragung des Viertelfinalspiels zwischen Frankreich und Irland. Vor dem Fernseher gönnen sie sich einen Ausflug in die große Rugbywelt.

ANDREAS RÜTTENAUER