Ein Lob auf das Unperfekte

Unverwechselbare Weine kommen aus den Händen von Menschen, die nicht aus Verlegenheit oder durch Zufall Wein machen

VON STEPHAN REINHARDT

Es ist heute nicht schwer, guten Wein zu machen. Früher war das gewiss schwieriger. Nein, wir reden hier nicht über moderne Techniken und deren Segen, marktkonforme Weine garantieren zu können. Reden nicht über sahnige Fruchtcocktails mit Pfirsichen, Äpfeln, Melonen, Brombeeren, Schokolade oder Kaffee.

Ein guter Wein ist heute so rund und glatt, dass man darauf ausrutschen könnte. Weil man keine Tiefe findet, in der man sich verlieren könnte. Weil man gar nicht erst hineinkommt in ein so hermetisch abgeschlossenes Kunstprodukt. Technisch perfekt, fehlerlos, seelenlos – aller Eigenarten enthoben und dem roten toten Weltmeer Wein einverleibt. „Wein entsteht im Weinberg“, betonen handwerklich arbeitende Winzer heute. Natürlich tut er das. Und es war Generationen von Winzern gewiss zu banal, Selbstverständliches als Philosophie zu verkaufen. Doch heute ist Authentizität ein Konzept, eine geistige Haltung zur globalisierten Weinwelt. Sie kreist um Begriffe wie Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Echtheit. Sie bestimmt die Arbeit der Winzer im Weinberg wie im Keller.

Ins glatte Fruchtfleisch, in das Wohlgefällige einen Stachel zu setzen, ist für viele Winzer aber nicht eine protestlerische Strategie, mit der sie sich in einer Marktnische zu positionieren versuchen. Das Kantige, Unrunde kann Ausdruck des Charakters einer Rebsorte sein, eines Weinbergs, seines Bodens oder auch des Klimas, des Jahrgangs, ja sogar des Winzers. Es ist aber auch die Konsequenz einer Weinbereitung, die einem natürlichen, zuweilen spröden Charakter so wenig wie möglich nehmen möchte und ihn im Zweifelsfall eher verstärkt als versteckt.

Solche Weine können einzigartig sein, aber sie sind nicht in jedem Falle auch gesellschaftsfähig; weil sie eine Herausforderung an unseren an Standards gewöhnten Geschmack darstellen; weil sie irritieren, manchmal auch schockieren. Und berühren. Zuweilen zart, zuweilen zupackend wie eine eiserne Kralle.

Wenn etwa ein Winzer wie der Rheingauer Peter Kühn seinen 2002er Riesling Oestrich Doosberg komplett auf der Maische vergärt, „spontan“, also ohne Zugabe von Reinzuchthefen, dann kommt kein galanter, feinfruchtiger Wein in die Flasche, sondern ein markant-würziger, strukturierter, rassiger Riesling. Mag sein, dass man einen derart ungezähmten Wein als Zumutung empfindet (oder gar lieber rot als weiß sähe). Aber in der Welt findet er nicht seinesgleichen.

Nicht weniger aufwühlend unzeitgemäß wie die Kühn’schen Rieslinge ist der urwüchsige Gewürztraminer „Exilissi“ 2002, den Helmuth Zozin unter dem Namen Baron di Pauli für die Kellerei Kaltern in Südtirol abgefüllt hat. Auch dieser Wein wurde im großen Holzfass spontan auf der Maische vergoren. Hochreife, von alten Rebstöcken geernteten Trauben, erbrachten nach der Gärung einen Alkoholgrad von 17 Prozent. Anstatt wie oft üblich den wuchtigen Wein mit Wasser salonfähig zu machen, wurde er so natürlich gelassen, wie er geworden war: mächtig und ölig. Mit den Gerbstoffen eines Rotweins und der triefenden Frucht reifer Litschis. Ein gewaltiger, ereignisreicher Gewürztraminer, dessen singuläre Größe sich erst offenbart, nachdem er drei Tage lang in der Karaffe Luft geholt hat.

Große und unverwechselbare Weine sind aber nicht nur eine Frage der natürlichen Voraussetzungen und der Vinifizierung. Sie kommen aus den Händen jener Menschen, die nicht aus Verlegenheit oder durch Zufall Wein machen, sondern aus Leidenschaft. Wein zu erzeugen ist ihnen innere Notwendigkeit und Herausforderung zugleich, und sie hassen nichts mehr, als nach Rezept zu arbeiten. Oft ist es der Bauch, das Gefühl, das sie Entscheidungen treffen lässt.

Im heißen, zuweilen verregneten Douro-Tal, im Norden Portugals, besteht die besondere Herausforderung darin, von alten Weinbergen, die oftmals mit über dreißig verschiedenen Rebsorten bestockt sind, Port- und Rotweine von größtmöglicher Harmonie zu erzeugen. Das ist nicht einfach, denn ein solcher Rebberg, mühevoll in Terrassen in den zerklüfteten Gebirgszügen angelegt, kann einem die großartigsten, aber auch die miesesten Trauben bescheren. Meistens liefert er beides zusammen.

Daher werden vermehrt die alten gemischten Sätze durch neue, sortenreine Anpflanzungen ersetzt. Überhaupt wird die ursprüngliche Sortenvielfalt verstärkt auf jene Trauben reduziert, von denen man sagt, sie seien die besten. Dirk van der Niepoort, der als Erneuerer des portugiesischen Weinbaus gilt, mag diese Reduktion nicht, weil sie der Tendenz moderner Önologen entspricht, alles kontrollieren zu wollen. Für ihn selbst sind alte Reben unverzichtbar für die Erzeugung charaktervoller Weine, und je gemischter sie im Weinberg stehen, desto besser. „Alte Reben ergeben in gemischten Anlagen die interessanteren und komplexeren Weine“, sagt er. Und er will nicht die besten Douro-Weine machen, weil das Beste immer nur technisch perfekt sein kann. Niepoort liebt das Unperfekte. Seine Weine dürfen durchaus auch kantige Noten haben und Rasse zeigen.

Charaktervolle Weine sind nicht mit standardisierten Methoden zu erzeugen. Niepoort mag es riskant – was nicht heißt, dass bei ihm im Keller Anarchie herrscht. Aber alles hier ist Experiment. Die Gefahr des Misslingens ist so allgegenwärtig wie die Chance, etwas Singuläres schaffen zu können. Das prickelt, das knistert – und lässt Niepoorts Team mit höchster Konzentration und Sensibilität arbeiten. Dennoch sind seine Weine nicht gefällig. Sie sind streng, geizen mit Süße und den sonst so beliebten marmeladigen Fruchtnoten, nicht aber mit Säure und mitunter markanten Gerbstoffen. Sie haben Struktur, Kraft und Frische – und zeigen – wie im Falle der Rotweine „Batuta“ und „Redoma“ – ihre Feinheiten erst nach Jahren, während sie sich in der Jugend eher spröde präsentieren.

Hingegen machen der burgundische „Charme“ sowie der fruchtige „Fabelhaft“ mit ihrer seidigen Eleganz und Finesse ihren Namen alle Ehre. Ihr tiefgründiger Charakter, die Koexistenz von Fülle und Transzendenz, ist wesentlich für alle Weine von Dirk Niepoort –und sie erzählen von der gewaltigen, steinigen Steillagenlandschaft am portugiesischen Douro, die so rau und kultiviert zugleich wirkt.

STEPHAN REINHARDT, Jahrgang 1967, lebt in Hamburg und ist Weinautor für überregionale Zeitungen und Fachzeitschriften