Der Boxer aus Schöneberg

Manche nennen ihn „Ali von Kreuzberg“. Aber Oktay Urkal ist in Schöneberg groß geworden. Im Tempodrom steht er heute wieder im Ring. Gegen den amtierenden Boxweltmeister Vivian Harris

VON JOHANNES GERNERT

Er betet jetzt. Ganz ernsthaft. Er hat gerade erst damit angefangen. Einmal in der Woche geht er in die Moschee und liest dort im Koran. Er will es weiterhin tun. Auch nach dem Kampf. Auch wenn er verliert. Wenn er nicht Weltmeister wird, heute Abend im Tempodrom. Oktay Urkal sagt: „Ich bete zu Gott, Tag und Nacht, dass es positiv ausfällt für mich.“ Man muss irgendwie umgehen mit diesem Druck.

Einige sprechen wieder von einer letzten Chance. So wie im April, als er zum ersten Mal gegen Vivian Harris, den amtierenden Boxweltmeister im Halbweltergewicht antrat. Und verlor. Nach Punkten. Es war eine knappe Entscheidung, eine umstrittene. Urkal nennt sie „sehr komisch“.

Sein Trainer, Ulli Wegner, sagt, dass es unsportlich wäre, von einem Fehlurteil zu sprechen. Es sei ein ausgeglichener Kampf gewesen, „’n knappes Ding“. Oktay Urkal hat die Niederlage zugesetzt. Er hatte mit mehr gerechnet. Auch noch nach dem Kampf, bevor klar war, dass es nicht gereicht hatte. Er hat sich dann bei seinen Fans entschuldigt. Es klang so, als würde er aufhören wollen mit dem Boxen. „Das sind die Emotionen nach dem Wettkampf“, sagt Wegner, „diese Enttäuschung.“ Jetzt tritt er noch einmal gegen Harris an. „Es ist ’ne Chance, die er nutzen muss, die letzte würde ich nicht sagen“, meint sein Trainer.

Es wäre der Höhepunkt. Oktay Urkal hat schon als Amateur viel gewonnen. Er war deutscher Meister, Europameister, Dritter bei der Weltmeisterschaft. Bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta holte er mit der deutschen Nationalmannschaft Silber. Anschließend wechselte er zu den Profis. Wieder wurde er Europameister. Er hat 36-mal gekämpft und nur zweimal verloren. Immer nach Punkten, und es war jedes Mal knapp.

Als es 2001 in Connecticut zum ersten Mal um die Weltmeisterschaft ging, gegen den Russen Kostya Tszyu, brach sein Gegner ihm den Unterkiefer. Er gab nicht auf, obwohl alles, was von nun an in seinem Gesicht landete, sich anfühlte „als ob mir einer mit der Baseballkelle ins Gesicht haut“. Er wollte den Amerikanern zeigen, dass es auch in Europa echte Boxer gibt. Gegen Harris muss er jetzt beweisen, dass Europäer auch gewinnen können.

Oktay Urkal ist 34 Jahre alt. Er wird nicht mehr ewig weiterkämpfen. Ein Sieg wäre auch finanziell ein Gewinn. Er denkt nach übers Geld. Er kann minutenlang fiktive Szenarien durchrechnen. Wenn man 100.000 Euro hätte, oder selbst 200.000, „das würde ja nicht für ein ganzes Leben ausreichen“.

Der kleinen Familie geht es beileibe nicht schlecht. Sie sind in ein Häuschen gezogen, er hat eine Eigentumswohnung. Sein Sohn ist fünf Jahre, seine Tochter sechs Monate alt. Der Kleine braucht Kleider, Spielzeug, bald Schulsachen, sie Windeln. Wenn Oktay Urkal die Boxhandschuhe einmal endgültig abstreift, werden sie nicht allein vom Ersparten leben können. Es ist, als würde man einen Wasserhahn aufdrehen, sagt er. Das Geld fließt, wenn man lebt. Irgendwann ist es weg.

Das Halbweltergewicht ist keine dankbare Gewichtsklasse. Nichts zum Reichwerden. Ulli Wegner, der Trainer mit der heiseren Stimme vom ständigen In-den-Ring-Schreien, erklärt es mit einem Fernsehvergleich. Es gibt gute Sendungen, die sieht keiner. Und „Scheißsendungen“ für „Gehirnkaputte“, die bekommen die höchsten Einschaltquoten. Schwergewichtsboxen ist so eine Scheißsendung. Alle wollen es sehen, aber „in Wirklichkeit sind das von Haus aus Pfeifen“. Im Halbweltergewicht dagegen und in den anderen mittleren Klassen kämpfen die wirklich Guten, findet Wegner, die „Spitzenleute“. „Das Niveau ist unheimlich hoch.“ Die Bezahlung dagegen ist eher niedrig. „Lachhaft, was wir bekommen im Gegensatz zum Schwergewicht“, sagt Oktay Urkal.

Dabei bringt auch er Quote. Schließlich ist er der, „der mit dem Kieferbruch boxt“. 4,3 Millionen haben ihm zuletzt zugesehen. „Ich bin der Beste nach Ottke“, sagt er. Seine Familie saß auch vor dem Fernseher. Die Frauen zumindest. Die sollen nicht in die Halle. „Ich habe Geschwister, die das nicht akzeptieren können, dass ich verprügelt werde.“ Als seine Frau einmal zuschaute, hat vorher ein Freund von ihm gekämpft. Dessen Frau rannte dabei immer aggressiv neben dem Ring auf und ab und seine, Urkals, versuchte, sie zu beruhigen: „Warum regst du dich denn so auf?“ Sie wusste die Antwort, als er im Ring stand.

Sie sind sechs Geschwister, und seine vier Brüder haben auch alle geboxt. Der älteste kannte Graciano Rocchigiani, die übrigen Jungs machten es ihm nach. „Alle anderen hatten irgendwann die Schnauze voll, ich bin der Einzige, der durchgehalten hat“, sagt Urkal. „Ich schätze schon, dass ich der Ehrgeizigste bin.“

Glück gehört auch dazu. Er würde nicht schon wieder gegen den amtierenden Weltmeister antreten, ein halbes Jahr nach der ersten Niederlage, wenn die besser Platzierten in der Weltrangliste sich nicht um den Kampf mit Harris gedrückt hätten. Im Boxerjargon heißt das „Pflichtverteidigung“. Weil die anderen nicht wollten, heißt das Duell noch einmal: Harris gegen Urkal.

Man muss auch die richtigen Leute treffen. Ulli Wegner etwa erklärt Urkals Erfolg mit: Ulli Wegner. „Den Durchbruch an die Weltspitze hat er erst unter mir geschafft.“ Talent hätten viele, aber ordentliche Führung die wenigsten. „Den Fleiß muss man in die richtigen Bahnen bringen.“

Ulli Wegner war DDR-Trainer, deshalb hat Oktay Urkal zum ersten Mal in Ostberlin von ihm gehört. Sie sind vor der Wende öfter zum Feiern rübergegangen. Die „Rausschmeißer“ in der Disko wussten, dass er boxt. „Geh zu Ulli Wegner“, haben die immer zu ihm gesagt. Aber er konnte ja nicht. Die Mauer stand noch. Er hat sich den Namen gemerkt, und als er 1989 schließlich konnte, ist er zum TSC Berlin gegangen. Er war Amateur damals, hat für 50 oder auch mal 100 Mark Zeltkämpfe gemacht, deutschlandweit. Nebenher hat er Röcke auf dem Markt verkauft, Zettel ausgetragen, bei McDonald’s gejobbt und in einem Security-Team. Irgendwann stand er also vor Ulli Wegner, und der fragte: „Wer bist du?“ „Oktay Urkal“, sagte Oktay Urkal, „norddeutscher Meister.“ „Kenn ich nicht“, sagte Wegner.

Er hat ihn dann kennen gelernt, hat ihn zum Training geholt, ihn mit zur Nationalmannschaft genommen. Urkal war dort Sparringspartner für einen Weltergewichtler. Sein Gegner musste ordentlich einstecken. „Kuck mal: Der Kleine haut den Großen“, hätten die anderen gesagt. „Da waren sie begeistert.“ Er bekam einen deutschen Pass und fing an, für Deutschland anzutreten. Wenn er jetzt kämpft, hat er zwei Flaggen auf der Hose. Manchmal fragen ihn Fans, warum er nicht für die Türkei boxt, die er selbst sein „eigenes Land“ nennt. Er antwortet dann: „Die wollten mich doch nicht haben.“ Es hat ihn verletzt damals, dass sie lieber einen türkischen Georgier zu Olympia schickten. Vor seinen Kämpfen ist die deutsche Nationalhymne zu hören. Er sagt, dass er diesem Land dankbar ist für alles, was er hier erreichen durfte. Er klingt wie ein höflicher Gast.

Andererseits ist er in Berlin geboren, er wohnt hier. Wenn er Urlaub in der Türkei macht, behandeln sie ihn dort „auch nicht besser als einen Deutschen. Die versuchen uns genauso zu bescheißen mit den Preisen.“ Es ist nicht leicht, sich selbst irgendein Länderlabel zu geben: „Du, wir sind jetzt multikulti, denke ich mir, wir passen uns ja überall an.“ Er weiß, dass er für viele türkische Einwanderer ein Idol ist, und es freut ihn.

Manche nennen ihn „Ali von Kreuzberg“. „Cassius von Kreuzberg“ sagen andere. Das klingt weniger nach Gastarbeiter und üblem Türkenwitz und mehr nach seinem Vorbild Mohammed Ali, der einmal Cassius Clay hieß. Ihm gefällt die Ali-Version besser. Aber eigentlich ist beides ziemlicher Unfug. Oktay Urkal ist in Schöneberg aufgewachsen, nicht in Kreuzberg. Er hatte eine „ganz normale Kindheit“. „Wir mussten uns nicht durchprügeln.“ Er hat seinen Hauptschulabschluss gemacht, bevor er jobbte und boxte. Ausbildung hat er keine. Es ist ihm wichtig, dass seine Kinder eine bekommen. Er sorgt dafür, dass sein Sohn nur am Wochenende Playstation spielt. „Der soll nicht die ganze Zeit vor dem Fernseher hängen.“

Sein Sohn wird wahrscheinlich schon schlafen, wenn er gegen Harris in den Ring steigt. Seine Schwester wird, während er kämpft, wieder aufgeregt aus dem Wohnzimmer rennen und nur in den Pausen reinkommen, um nachzusehen, ob sein Gesicht noch zusammenhält. Oktay Urkal wird mehr geben als alles, wie immer. Und wenn es nicht reicht? Er möchte darüber nicht nachdenken. Er betet jetzt lieber.