Frei nach Schnauze

Alemannia Aachen erbebt sich zum „größten Tag der Klubgeschichte“: 1:0 im Uefa-Cup gegen den OSC Lille

KÖLN taz ■ Es war nicht nur der Triumph als solcher: 1:0 gegen den OSC Lille, Tabellenzweiter der ersten französischen Liga. Es war auch nicht die atemberaubende Art und Weise, die den Zweitligadritten auf noch mehr als die Uefa-Cup-Gruppenphase hoffen lässt. Und es waren auch nicht allein diese glücklichen Gesichter nachher bei Spielern und Vereinssonstigen, dieses entrückte Lächeln, gemischt mit mühsam gebändigtem Stolz. Da war auch ein Trainer, der erst sagte: „Was soll ich sagen?“ Und dann: „Ich will mal ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern.“

Und also sprach Dieter Hecking nach diesem „bislang einzigartigsten Tag“, man habe vorher nicht recht gewusst, wie man als kleiner Zweitligist wohl am besten gegen den Gegner aus Frankreichs erster Liga spielen solle: vorsichtig, abwartend „oder eben mit Pressing unser Spiel durchziehen“. Das habe man lange „intern diskutiert, auch im Trainerstab“. Auch? Wer redet da noch mit? „Die Spieler natürlich“, sagte der Verantwortliche, „die haben ein Mitspracherecht, oft ein gutes Gespür, und die wissen oft Sachen, die der Trainer nicht weiß.“ Demokratie im Kabinengang, wahrlich nicht alltäglich und offenbar ein Teil der alemannischen Erfolgsgeschichte.

Und also waren sie „das Ding frontal angegangen“ (Sportdirektor Jörg Schmadtke) und hatten mit hingebungsvoller Unbekümmertheit „frei nach Schnauze gespielt“, wie Torschütze Erik Meijer (67. Minute) befand. Abgesehen vom Tohuwabohu der Nachspielzeit hatten die Franzosen kaum Torchancen und hatten ihr technisch feines Spiel immer wieder früh unterbunden gesehen. Abwehrchef Alexander Klitzpera: „Wir waren überlegen, haben dominant gespielt“; kurz: „Es war einfach gigantisch.“ Kai Michalke hatte gemerkt, dass bei diesem Gegner „alles ein bisschen schneller geht“, aber, so seine erstaunliche Analyse, „weil wir auch gute Fußballer haben, kam uns das sogar entgegen“.

Mit putzigem Stolz wusste der Verein mitzuteilen, dass das ZDF nach Köln das gleiche Reporterteam wie zum Weltmeisterschaftsfinale 2002 nach Yokohama geschickt hatte. Die Westzipfler medial ganz oben, und das auch quantitativ: Der Auftritt gegen Lille war das 13. Alemannia-Spiel in diesem Jahr (7-mal Liga, 3-mal DFB-Pokal, 2-mal Uefa-Cup, 1 Geisterspiel), das live im Free-TV übertragen wurde, weit mehr als Bayern München zu bieten hat. Mindestens drei Spiele kommen bis Weihnachten noch dazu – ein Allzeitrekord für einen deutschen Zweitligisten. Und die Zuschauer dürfen es genießen: Hecking hat festgestellt, es gebe derzeit in Deutschland „zwei geile Teams, die den Spaß am Fußball verkörpern“. Das andere Team, das er meint, ist natürlich Erstligist Mainz 05.

20.000 Printenstädter waren in den „Ballfahrtsort Köln“ (Aachener Zeitung) gepilgert, inklusive des Transparents „Heimatlose Aachener“. Der Tivoli-Sprecher (den exportiert man ins Exil wie die schwarz-gelben Tornetze) jubilierte im Mittelkreis nach dem Schlusspfiff noch was „vom größten Erfolg der Klubgeschichte“ in sein Mikro, holte tief Luft – und ihm fiel nichts mehr ein. Die Fans haben noch die Extrahoffnung, dass sie, wie es einer nannte, „den Kölnern das Stadion endgültig verhext haben“ – nach Alemannias erstem Uefa-Gastspiel gegen Hafnarfjördur hat der verhasste Ligakonkurrent 1. FC tatsächlich beide Male seine ersten Halbzeiten verloren, „jetzt waren wir das zweite Mal hier, und jetzt wirkt die Magie ganz.“ Der Kölner Express, sonst Zentralorgan des FC-Jubels, wurde gestern schon wehmütig: „Endlich mal ein Gastgeber, bei dem ein System zu erkennen ist!“

Uneingeschränkt euphorisiert waren indes nicht alle. Aachens Oberbürgermeister Jürgen Linden (SPD), Alemannia-Verwaltungsrat und sonst als leidenschaftlich beschalter Repräsentanz-Fan auffällig, hatte „nichts vom Spiel mitbekommen“. Er musste ausgerechnet zur Anstoßzeit im Krönungssaal der Tivoli-Stadt den Festakt zu Aachens Befreiung als erste deutsche Stadt vom Faschismus am 21. 10. 1944 leiten. „Man muss halt Prioritäten setzen, aber das war schon sehr schade“, sagte er gestern der taz. Daheim ereilte Linden dann der Schreck in der Freude: „Ich hatte vergessen, den Videorekorder anzustellen.“

Der 21. Oktober – ein sehr guter Tag für Aachen. Der US-Botschafter hatte bei der Befreiungsfeier vom Beginn einer für Europa „einzigartigen Erfolgsgeschichte“ gesprochen, gewachsen aus Trümmern und Leid. Alemannias Präsident, der vor zwei Jahren einen leidenden Verein in Trümmern übernahm, weiß derweil: „Die Marke Alemannia ist angekommen“, mitten in Fußball-Europa. Zudem gilt: „Der Irrsinn geht weiter.“ Nächste Station: Sevilla, 4. November. 1944 hatte da in Aachen gerade der erste deutsche Nachkriegs-OB sein Amt angetreten.

BERND MÜLLENDER