„Die Leute haben den Pragmatismus satt“

Der Niedersachse Sigmar Gabriel hat das Grundsatzpapier der Netzwerker mitgeschrieben. Er glaubt, dass die SPD ein „optimistisches“ Programm braucht. Nicht so sehr zum Regieren, mehr um sich ihrer selbst zu vergewissern. „Wenn Sie wollen, können Sie das Vision nennen“

taz: Herr Gabriel, seit wann ist denn der Popbeauftragte der SPD für Programmfragen zuständig?

Sigmar Gabriel: Die Frage ist so dämlich, dass ich keine Lust habe, darauf zu antworten. Ich dachte, wir wollten über Politik reden.

Wir sind mittendrin. Die SPD steckt in der Krise. Hat Ihre Partei keine anderen Sorgen, als jetzt ein Programm zu diskutieren, das später ohnehin kaum ein Mensch liest?

Wir brauchen kein neues Programm, um regieren zu können. Grundsatzprogramme sind zuallererst ein Akt der Selbstvergewisserung, und den hat die SPD bitter nötig.

Ein Programm als Selbstzweck für die Partei?

Natürlich nicht. Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, das interessiert keinen. Die Bürger haben den reinen Pragmatismus satt. Sie wollen wieder wissen, welche Werte die Parteien vertreten, welche Ziele sie mit ihrer Politik verfolgen. Wenn Sie wollen, können Sie das auch Vision nennen.

Simple Frage: Warum braucht die SPD ein neues Programm?

Das derzeit noch gültige Berliner Programm von 1989 ist ein Schlussdokument der westdeutschen 80er-Jahre. Es ist nicht mehr in der Lage, uns am Beginn des 21. Jahrhunderts die dringend notwendige Neuorientierung zu geben. Außerdem merken wir, dass wir keine Leitlinien für das haben, was wir in der Alltagspolitik machen. Das alte Programm ist von einem skeptischen Grundton durchzogen. Selbstverständlich brauchen wir Nachdenklichkeit, aber vor allem Neugier. Die SPD muss wieder Optimismus ausstrahlen.

Hat die SPD da etwas versäumt?

Ja. Im Wahlkampf 1998 haben wir Innovation und Gerechtigkeit versprochen. Dafür standen Schröder und Lafontaine. Programmatisch haben wir das nie eingelöst. Mit dem Weggang von Lafontaine ist dieser Versuch abgebrochen worden.

Die SPD hat einen Vorsitzenden, der sich für programmatische Fragen erklärtermaßen überhaupt nicht interessiert. Ist das nicht ein Teil des Problems?

Gerhard Schröder ist sicherlich kein Freund von dicken Programmpapieren. Aber er spürt genau unser programmatisches Defizit. Er weiß, wie wichtig diese Wertedebatte für die SPD ist.

Schröder und Wertedebatte?

Schröder ist jetzt über vier Jahre SPD-Chef. Das Amt hat ihn mehr geprägt, als viele glauben. Er ist davon überzeugt, dass es eine enge Verzahnung von Alltagspolitik und den großen sozialdemokratischen Linien geben muss.

Auf einen Begriff gebracht – wofür steht die SPD?

Emanzipation. Ziel der Sozialdemokratie ist es, dass das Leben der Menschen offen ist, dass sie ihre Chancen unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Geschlecht wahrnehmen können.

Warum nicht „Freiheit“?

Die SPD hat den Begriff der Freiheit in den letzten Jahren unterschätzt. Sie hat nur die Hälfte des Begriffs betont: „Freiheit von“. Freiheit von Not, von Elend, von gesellschaftlichen Risiken. Sie hat „Freiheit für“ oft vernachlässigt. Freiheit für ein selbstbestimmtes, kreatives Leben. Die SPD steht jedoch für mehr als nur für Freiheit.

Ist die SPD noch die Partei der sozialen Gerechtigkeit?

Selbstverständlich.

Zwei Drittel der Deutschen halten die SPD für keine soziale Partei.

Das überrascht mich nicht. Es ist doch objektiv so, dass die SPD zum ersten Mal in ihrer 140-jährigen Geschichte den Menschen etwas nimmt. Sie baut den Sozialstaat nicht aus, sondern ein Stück ab. Dafür ist natürlich keiner in die SPD eingetreten, und dafür hat uns in der Vergangenheit auch noch nie jemand gewählt. Die Leute sind stinksauer, auch deswegen, weil wir ihnen vor der Bundestagswahl 2002 die unangenehmen Wahrheiten verschwiegen haben.

Die alte Frage der Arbeiterbewegung: Was tun?

Meine Mutter ist 80 Jahre, ehemalige Krankenschwester, keine sehr hohe Rente. Jetzt wird ihre Rente zum ersten Mal gekürzt. Wenn ihr mir erklärt, was ihr mit meinem Geld macht, sagt sie, dann können wir darüber reden. Aber sie hat keine Ahnung, wofür ihr Geld gebraucht wird.

Die rot-grüne Regierung erklärt ihre Politik nicht.

Wir reden zu viel über die Instrumente unserer Politik und zu wenig über deren Ziele. Wir kommen als kühle Techniker der Macht daher. Uns fehlt die Leidenschaft. Wir müssen den Leuten sagen, wofür wir die Agenda 2010 eigentlich machen, wir müssen sie an dem Prozess beteiligen und erklären, was für jeden Einzelnen dabei rausspringt. Ganz konkret. Wie viel Geld wollen wir 2004, 2005 und 2006 für Bildung ausgeben? Wie wollen wir 2004, 2005 und 2006 dafür sorgen, dass Familien mit zwei Kindern nicht mehr 10 Prozent ihres Einkommens für die Kindergartenbetreuung ausgeben müssen? Meine Mutter sagt übrigens noch etwas anderes: Sie will als Rentnerin nicht die Einzige sein, die ihren Beitrag zu den Reformen leistet.

Die Kleinen müssen bluten, die Großen lässt Rot-Grün laufen?

Diesen Eindruck haben die Leute.

Und, stimmt der Eindruck?

Ja. An den Reformen müssen alle beteiligt werden.

Das riecht nach Vermögensteuer.

Ich bin ja Vorsitzender des SPD-Fanklubs für die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Die SPD hätte sagen müssen: Wir versuchen das mit der Vermögensteuer, und wenn sie im Bundesrat scheitert, dann wissen die kleinen Leute wenigstens, wer sie vertritt. Inzwischen ist mir das Instrument fast schon egal: Diejenigen, denen es besser geht als einer Rentenerin, die früher Krankenschwester war, müssen auch ihren Beitrag leisten, sei es über die Vermögensteuer, die Erbschaftsteuer oder das Aussetzen der Senkung des Spitzensteuersatzes.

Ihre Generation will die SPD jetzt aus der Krise führen. Aber den Jüngeren wird vorgeworfen, sie seien selbstgenügsam und pausbäckig, ihnen fehle die brutale Energie eines Aufsteigers wie Gerhard Schröder.

Diese brutale Energie wollen wir gar nicht haben. Wir wollen die Kannibalenkämpfe unserer Vorgänger nicht wiederholen. Mal abgesehen davon: Die, die diese Vorwürfe gegen uns erheben, sind meistens in unserem Alter. Die sind selbst Weicheier.

INTERVIEW: JENS KÖNIG