Warhol verdoppelt

Anzeige eines Verlustes: Deutsche Wirklichkeit kam beim Dokfilmfestival in Duisburg nur noch experimentell vor

Der Dokumentarfilm, auf 16 oder 35 Millimeter für die große Leinwand gedreht, ist verschwunden. Er wurzelte im direct cinema, seine Autoren dachten eher in Kino- als in Fernsehkategorien und versuchten, mit ethischen und ästhetischen Doktrinen ausgerüstet, das Nichtoffizielle zum Vorschein zu bringen. Ein paar Regisseure, die solche Filme herstellen, gibt es noch immer. Doch als Form mit eigenen Regeln scheint er hierzulande nicht mehr zu existieren.

Beim diesjährigen Dokfilmfestival in Duisburg waren fast nur mit Video- und digitaler Technik entstandene Filme zu sehen. Und viele sahen auch genau so aus: die Bilder zufällig, der Schnitt eher gesampelt als montiert, formal zwischen Dokfilm, Feature und Reportage schwankend. Trial-and-Error-Ästhetik.

Video und digitale Technik haben die Produktion verbilligt und, wenn man will, demokratisiert. Manche Filme nutzen die Vorteile digitaler Produktion höchst effektiv. Jörg Siepmann beobachtet in „Golden Lemons“ die Tournee der Hamburger Polit-Band Goldenen Zitronen durch die USA mit einer Sony-Kamera aus dem Mediamarkt. Die recht intimen Bilder im Tourbus hätte Siepmann mit einer größeren Kamera kaum filmen können. Aufgeblasen auf Kinoformat, machen sie auf der Leinwand etwas her. Und doch fehlt etwas. Dieses Manko fällt ins Auge, weil die digitale Technologie bislang kaum eigene Bilder oder eine neue filmische Grammatik hervorgebracht hat. Viele der Filme in Duisburg sahen aus wie Zerfallsprodukte des Kino-Dokumentarfilms: Wie Imitate, Laminat-Filme.

„Echt falsch“ lautete das Motto in Duisburg. Man befasste sich mit „Mockumentaries“, der bewussten Inszenierung im Dokumentarischen. Casting ist dabei längst gängige Praxis, die Wirklichkeit bekanntlich ein schwankender Boden. Wie dies die Beziehung zwischen Abgebildeten und Bilderproduzenten verändert, zeigte Georg Mischs „I am from nowhere“, das Porträt des Dorfes Mikova in der Ostslowakei. Aus Mikova emigrierten einst die Eltern von Andy Warhol. Seit sich dies herumgesprochen hat, geben sich dort TV-Teams die Klinke in die Hand. Das hat in dem Dorf eine wundersame Vermehrung der Zahl der Verwandten von Andy Warhol bewirkt. Misch bildet diese Vermischung von Medialem und Realem nicht nur ab, er macht es zum Teil der Erzählung. Der Dorflehrer illustriert mit Digicam-Bildern seinen scheiternden Traum, auf den Spuren von Andy Warhol in die USA auszuwandern, und diese Bilder werden zum Zentrum des Films. So verwandelt sich der Beobachtete, der Lehrer, in eine Art Co-Regisseur. Diese Selbstreflexion ist in „I am from nowhere“ mehr als eine Geste: Es ist Teil der Dramaturgie.

Und die Inhalte? Es gab durchdachte, politische Filme – vor allem „Die Helfer und die Frauen“ von Karin Jurschick, die versucht, den Frauenhandel in Bosnien und im Kosovo zu begreifen. Der Chef der UN-Mission erklärt, dass SFOR-Truppen und UN-Mitarbeiter mit dem Trafficking wenig zu tun haben. Die UN-Menschenrechtsbeauftragte zeigt, dass es sich anders verhält: Ohne die „Internationals“ gäbe es keinen Markt für Prostitution.

Die UNO ist offenkundig Teil des Problems, das sie lösen soll. Seit dies ruchbar wurde, versucht sie, mit Razzien in Nachtclubs Verschleppte ausfindig zu machen und den ramponierten Ruf aufzuhellen. Geholfen ist den Prostituierten damit wenig. Am Ende steht für sie oft die Abschiebung nach Moldawien.

„Die Helfer und die Frauen“ ist um eine Leerstelle konstruiert. Die Prostituierten bleiben fast bilderlos, ihre Geschichten tauchen als Schriftinserts auf. Diese Ellipse imprägniert den Film gegen Sozialkitsch: Es entzieht die Identifikationsfigur „Opfer“ unserem Blick und lenkt ihn auf eine Struktur. In dieser Struktur sind die verschleppten Frauen stets Objekte: der Händler, der Kunden, der UN-Institution (am Sonntag, 21.45 Uhr in 3sat).

Es gab in Duisburg ein paar solcher Filme. Und doch blieb etwas merkwürdig unterbelichtet: die soziale Realität vor der Haustür. Dies ist vielleicht kein Zufall wenn man bedenkt, dass sie der klassische Stoff des untergegangen Dokumentarfilms war.

Deutsche Wirklichkeit kam in Duisburg gewissermaßen nur experimentell vor. In Calle Overwegs „Das Problem ist meine Frau“ sieht man eine Spielanordnung: Ein (echter) Therapeut redet mit Schauspielern, die Texte von Männern vortragen, die ihre Frauen schlagen. Eine Inszenierung, ein Mockumentary. Die Therapie ist gekonnt in Szene gesetzt. Sie mag auch Erkenntnisse zu Tage fördern, welche Typen von Männern Gewalt anwenden. Viel mehr allerdings nicht.

Was kann das dokumentarische Bild jenseits der TV-Features in einer zusehends mediatisierten, digitalen Gesellschaft leisten? Der Dokfilm scheint darauf mit der Hinwendung zu Rollenspielen zu reagieren, mit Inszenierungen von Inszenierungen und Selbstreflexionen. Etwas fehlt. STEFAN REINECKE