JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA
: „Haben Sie diese ...Gewürzdinger?“

Es gibt Wörter, die fallen einem einfach nicht ein, wenn man sie braucht. Zum Beispiel „Spekulatius“. Oder „Mimikry“

In Polen gibt es das ganze Jahr über Weihnachtsgebäck. Was angesichts der vorherrschenden religiösen Anschauung in diesem Land fast schon blasphemisch zu nennen ist, wenn es nicht so lecker wäre. (Am Wochenende haben sich übrigens die Kirchenvertreter der beiden deutschen Hauptsekten darüber beschwert, dass heutzutage bereits vor dem ersten Advent Schokoladennikoläuse verkauft werden. Besonders niedlich ist diese Aktion, weil die zur Protestaktion gehörenden Internetseiten www.rettet-die-adventszeit.de und www.advent-ist-im-dezember.de heißen).Aber das sei nur am Rande erwähnt. Viel mehr interessiert mich in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das mir wieder untergekommen ist, als ich letzte Woche (ganz anarchistisch weit vor dem von den Kirchen gewünschten Verkaufsbeginn) Lust auf Butter-Spekulatius bekam.

Butter-Spekulatius unterscheiden sich von landläufigen Gewürz-Spekulatius darin, dass sie durch den erhöhten Fettanteil einen besonders intensiven Geschmack aufweisen – Fett ist, wie jeder weiß, ein Geschmacksverstärker, darum sind auch Menschen suspekt, die ihr Käsebrot ohne Butterunterlage essen. Jedenfalls: Mir fiel im Supermarkt das Wort Spekulatius nicht ein. Mir fällt nämlich in acht von zehn Fällen das Wort Spekulatius nicht ein, das war schon immer so, das Wort Spekulatius gehört in meinem aktiven Wortschatz zu einer Gruppe von Wörtern, die ich als „Schläfer“ bezeichne; allein, sie unterscheiden sich vom Spion-Schläfer dadurch, dass sie auch bei dringender Aktivierung nicht aufwachen.

Zu diesem zickigen Exklusiv-Wortclub gehören zum Beispiel auch die Begriffe „Signifikanz“, „Mimikry“, „Palette“ und „Indikation“, zugegeben, das sind alles Wörter, die man nicht allzu oft braucht, es sei denn als StatistikerIn, BiologIn, GabelstaplerfahrerIn oder ÄrztIn. Aber es kommt dennoch vor. Und dann steht man da und ist blockiert.

Amnestische Aphasie nennt man diese Art von Blockade, laut des „Lexikons der Sprachwissenschaft“ von meiner Lieblingslinguistin Hadumod Bußmann handelt es sich bei einer Aphasie um den „völligen oder teilweisen Verlust des Sprachvermögens aufgrund von Hirnschädigungen bei erhaltener Funktionstüchtigkeit der Artikulationsorgane und unbeschädigter Intelligenz“ (sehr beruhigend). Es gibt drei Arten Aphasien, die amnestische definiert meine Freundin Hadumod als „Wortfindungs- und Benennungsschwierigkeiten bei erhaltenem Sprech- und Sprachvermögen“, und sie weist darauf hin, dass „Art und Zeitpunkt der Hirnschädigung“ für den Verlauf der Aphasie sehr wichtig seien.

Die Frage, die ich mir stelle, während ich stammelnd vor der Verkäuferin stehe und mich mit „Haben Sie diese … Gewürzdinger …, die es auch mit Butter gibt?“ blamiere, ist also: Zu welchem Zeitpunkt wurde mein Hirn in der Spekulatius-Region geschädigt? Da ich nicht in Polen aufgewachsen bin, muss es um das Jahresende herum gewesen sein. Vielleicht, als ich bei einer Studentenparty im Herbst 1988 so betrunken war, dass ich am nächsten Morgen beide Kontaktlinsen auf das gleiche Auge setzte und die merkwürdigen Sichtverhältnisse mit dem Kater erklärte? Oder noch früher, als ich mir vom Pizzaservice nur eine Flasche Wein kommen ließ? Oder später, als ich nach dem ersten Harry-Potter-Film ein paar Mal nacheinander Dobby, den blöden Hauselfen, nachmachte, der sich immer auf den Kopf schlägt und dazu „Böser Dobby, böser Dobby“ sagt? Und wann zur Hölle kam die Mimikry-Schranke? Ich habe das Gefühl, dass ich die Blockade nicht lösen kann, wenn ich den Zeitpunkt des Aphasie-Beginns nicht genau bestimme.

Aus diesem Grund habe ich zu einer genialen Notlösung gegriffen, von der nicht mal Fräulein Hadumod schreibt: Ich trage seit dem letzten Spekulatius-Ausfall immer eine stetig länger werdende Liste mit den inkriminierten Worten bei mir. Bei Problemen spicke ich drauf. Werde demnächst versuchen, diese Idee etwas weiterentwickelt an Schulkinder zu verkaufen.

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