Wer gehen will, wird geschnitten

Nicht wenige der israelischen Siedler wollen den Gaza-Streifen verlassen, wenn der Staat sie großzügig entschädigt. Nachbarn halten sie für Feiglinge

AUS RAFIACH JAM SUSANNE KNAUL

Für Meraw Cohen ist Ariel Scharon eine Art Messias. Der Abzugsplan des israelischen Premierministers wird ihrer Angst ein Ende machen, wird sie wieder mit ihrer Tochter vereinen und ihrem Mann mit einer großzügigen Wiedergutmachungszahlung einen Neustart ermöglichen, irgendwo, wo es sicherer ist als in Rafiach Jam, der südlichsten jüdischen Siedlung im Gaza-Streifen. Immerhin gelang es Scharon gestern, das „Evakuierungs-Entschädigungsgesetz“ vom Kabinett absegnen zu lassen.

Damit ist der Weg für künftige Räumungsbefehle geebnet. Die Regelungen für eine Wiedergutmachung der Siedler wird in der kommenden Woche Thema des Parlaments sein. Die Ausgangssumme für die 7.500 Siedler liegt insgesamt zwischen umgerechnet 500 und 600 Millionen Euro.

Meraw rechnet mit großzügiger Wiedergutmachung vom Staat. Dabei gehört ihr das Einfamilienhaus, für das sie eine geringe Miete zahlt, nicht einmal. Bei „Sela“, dem jüngst vom Staat eingerichteten Verwaltungsbüro für den Abzugsplan, hieß es, „wir werden nicht enttäuscht werden“, meint sie. Dabei sei schon mal von einer Viertelmillion US-Dollar die Rede gewesen, „es wird vielleicht doppelt so viel“. Schließlich brauchte man Ersatzwohnraum und „Startkapital für das neue Geschäft“.

Seit 1998 lebt die heute Anfang 30-Jährige im Siedlungsblock Gusch Katif. Ihre hohen Backenknochen treten in dem mageren Gesicht hervor. Sie wirkt zerbrechlich. Vor knapp einem Jahr, als ihre beste Freundin mit vier Töchtern auf der Zufahrtsstraße nach Gusch Katif erschossen wurde, ist Meraw zusammengebrochen: Sie verlor 15 Kilogramm Körpergewicht. Ihre mit sechs Jahren älteste Tochter war schon vorher zu den Großeltern nach Israel gezogen, weil sie die ständige Angst nicht länger aushalten konnte.

Rund 40 Zivilisten starben in den letzten vier Jahren bei Angriffen im Gaza-Streifen. Über 4.000 Mörsergranaten und etwa 450 Kassam-Raketen wurden in der gleichen Zeit auf die Region abgeschossen. Dazu kommt die Bedrohung durch Schusswaffen, vor allem auf den Zufahrtsstraßen zu den Siedlungen.

Meraw gehört zu den wenigen umzugswilligen Siedlern, die bereit sind, sich zu „outen“. Aus Angst vor dem Druck ihrer radikaleren Nachbarn bewahren die meisten Stillschweigen über den erwogenen Neustart in Israel. Avischai Nativ, ein Pizzabäcker, verkauft „praktisch nichts mehr“, seit er Mitte August neun umzugswillige Familien zu einem Treffen mit Aktivisten der „Schuwi“ („Komm zurück“) zu sich nach Hause einlud. Die Bürgerbewegung, die per Unterschriftensammlung und Rechtsbeihilfe den Abzug voranzutreiben versucht, war in Rafiach Jam wenig willkommen. Binnen kaum einer halben Stunde versammelten sich ihre politischen Gegner vor dem Haus, riefen Beleidigungen und wurden handgreiflich.

„Sie können nicht erwarten, dass wir sie mit Blumen empfangen“, kommentierte Eran Sternberg, Sprecher der Bezirksverwaltung, den Zwischenfall. Die neun abzugswilligen Familien seien „der Abschaum unserer Gemeinde“.

Der 49-jährige Nativ will so schnell wie möglich weg, aber „nicht für umsonst“. Ganze 60.000 Schekel (11.500 Euro) hat er von seinem Haus abbezahlt. „Wenn der Staat will, dass ich von hier weggehe, muss er mir etwas Vergleichbares bieten.“ Rafiach Jam liegt idyllisch zwischen Sandhügeln und Palmen unmittelbar am Strand. Bei Sela sei ihm mitgeteilt worden, dass die Entschädigungssumme bei 1.000 US-Dollar pro Quadratmeter Wohnraum liege. Auch er hofft auf eine viel höhere Summe.

Chaim Altmann, Sprecher der Sela, veranschlagt die Entschädigungssummen grob auf 100.000 bis 400.000 US-Dollar pro Familie. Der genaue Betrag werde unter Berücksichtigung mehrerer Faktoren berechnet, erklärt Altmann, darunter die Zahl der Kinder, die Wohnjahre, getroffene Investitionen, der Verlust von Arbeitsstellen. Abzugswillige werden zudem mit einem sofortigen Bonus von immerhin 30.000 US-Dollar bedacht. Umgekehrt riskiert, wer sich der Räumung widersetzt, hohe Geldstrafen.