Der wahre Kuss bleibt schleimfrei

Der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate referierte zum 175. Geburtstag einer Bremer Silbermanufaktur über seinen „Manieren“-Bestseller. Manierliche Freunde der guten Sitten erfreuten sich am neuen Trend zu alten Regeln

„Manieren“ steht auf dem Veranstaltungsplakat. Ein Sehnsuchtswort wider eine enthemmte Zeit, in der Scham- und Dezenzformen im zwangsjuvenilen Rülpszwang verschwinden. Ein Reizwort, das an entleerte Etikette, aber auch an vornehme Bescheidenheit denken lässt. Ein Wort, das jetzt elektrisierend wirkt auf Menschen jenseits der 40, die sich die alte Sicherheit historisch gewachsener Vereinbarungen zurückwünschen. So strömen Hunderte zur „Manieren“-Performance. Anlässlich des 175. Geburtstages der Bremer Silberwarenmanufaktur Koch&Bergfeld wird der Prinz Asfa-Wossen Asserate präsentiert.

Und die Menschen strömen – manierlich. Obwohl die Veranstaltung längst ausverkauft ist, nur Plätze auf Treppenstufen zu ergattern sind, steht man ordentlich Schlange, hilft der Begleiterin aus dem Mantel, formiert sich für jeden noch so leisen Nieser zu einem „Gesundheit“ wünschenden Chor. Hocherfreut, dafür einmal nicht als Kleinbürger belächelt zu werden, der sich geschliffene Umgangsformen als sekundäres Reichtumsmerkmal aneignet – für den erhofften gesellschaftlichen Aufstieg.

Wer den qua Herkunft nicht nötig hat, fühlt sich in der Warteschlange vielleicht etwas fremd. Und steht plötzlich ganz vorn in der Reihe. Höflich auf das unmanierliche Vordrängeln hingewiesen, erschallt die Antwort: „Ich wusste nicht, dass Sie auch für solch eine Veranstaltung anstehen.“

Solch eine Veranstaltung könnte kaum ein passenderes Ambiente finden als die Gründerzeitvilla der Sterling-Silber-Fabrikanten. Das Publikum sitzt zwischen massigen Eichenschränken, in denen verspielte Besteckkreationen von Wagenfeld, Hoetger, van de Velde zu sehen sind – wie auch die frisch-elegant designten Esswerkzeuge für die deutschen Botschaften.

Man bekommt einen Eindruck, wie sich Manieren in der Wahl des richtigen Bestecks ausdrücken können. „Schwer muss es sein, groß und sich in die Hand schmiegen“, erläutert Asserate, ein Großneffe des letzen äthiopischen Kaisers Haile Selassi. Der Prinz lebt seit 1968 in Deutschland. Mit dem populärwissenschaftlichen „Manierern“-Essays wurde der 55-Jährige zum Nachdenker, für einige auch zum Vordenker in Sachen Anstand, Diskretion, Nachsicht, Geduld, Demut, Achtsamkeit, Respekt. Gerade weil er aus der Perspektive des vertrauten Fremden berichtet. Und Manieren nicht als Attitüde, Uneigentlichkeit, Taktik des Verbergens von Individualität darstellt. Sondern trotz der aktuellen Mode, eigene Befindlichkeiten anderen ins Gesicht zu kotzen, daran erinnert, „Gefühle des anderen Vorrang zu geben gegenüber den eigenen“.

Eine schöne Definition von Manieren, weil sie auf ihre gesellschaftliche Funktion verweist: Schmiermittel des Miteinanders zu sein, um „die scharfen Kanten der grundsätzlichen Feindschaft zwischen allen Menschen ein klein wenig abzuschleifen, damit nicht gleich bei jedem Zusammenstoß Blut fließt“. Was man heutzutage soziale Kompetenz nennt.

Dabei geht aber eine gewichtige Dimension verloren. Laut Asserate sind Manieren nicht nur ein höfischen Vorbildern nachmodelliertes Ritual, sondern auch Ausdruck der Humanitas – und würden einer Herzensregung entspringen: „Manieren sind ästhetischer Ausdruck der Moral.“ Ohne diese seien sie nur manieriert, nervten als überbordende Höflichkeit.

Fürs manierliche Verhalten werde man allerdings selten belohnt, manchmal gar für dumm und desinteressiert gehalten, bedauert Asserate. Manierlich zu handeln ist halt auch Eitelkeit, Selbstgenuss, Freude an der Schönheit eigenen Tuns. Sofern der Manieren-Adressat mitspielt.

Aber nicht einmal Frauen dürfe man mehr die Tür aufhalten, beschwert sich ein Zuschauer. Allerdings ein Handkuss werde auch heute noch gern genommen, heißt es von Frauenseite. Sofern er mit trockenen Lippen ausgeführt werde und keine Schleimspur hinterlasse. fis