Eine deutsche Metapher

Überdimensioniert und unbeherrschbar: Der Bau des Palastes der Republik und das Katastrophenszenario seines Abrisses verschmelzen in der Performance „Richtfest“. Denn was für so viel Zukunft gebaut wurde, widersetzt sich dem Verschwinden

VON ANDREAS BECKER

„Dort werden wir ein Restaurant für Familien errichten, dort ganz hinten ein Bistro, dahinter vielleicht einen Festsaal für Hochzeiten, wir wissen nur noch nicht genau, für welches Geschirr wir uns entscheiden werden. Wie fänden Sie das hier mit dem Goldrand?“ Armin Dallapiccola hält einen Teller in die Luft und schaut fragend ins Publikum, das gekommen ist, um den zukünftigen Palast der Republik schon mal im Rohbau in Augenschein zu nehmen. Denn wir schreiben in der Performance „Richtfest“ ein Jahr irgendwann vor 1974; es ist Sozialismus, die Menschen sind glücklich, und alle haben einen Kindergartenplatz.

„Richtfest. Erste öffentliche Begehung“ ist die vielleicht erste Performance im seltsam schnell nervend gewordenen Volkspalast-Kulturprogramm, die tatsächlich irritiert. In dem Stück des Schweizer Regisseurs Ruedi Häusermann tun wir einfach mal so, als läge der Ausbau des Stahlbetonkastens noch vor „uns“. Die Besucher werden wie bei einer Führung in Gruppen unterteilt, allerdings nach leicht aberwitzigen Kriterien. Die vier nach Farben geordneten Gruppen werden in Brillenträger, Nichtbrillenträger und nach Geschlechtern selektiert. Sich einfach dem Regiment der Palastleitung zu widersetzen, traut man sich nicht.

Lustige Autoritätshörigkeit. Die wird auch im Gebäude gefördert, wenn die Gruppen auf viel zu engen Treppen zusammengepfercht den Vortragenden und einem kleinen Chor lauschen, der penetrant immer wieder singt „Lass den Sonnenschein herein, lass den Sonnenschein herein …“, was tatsächlich nicht schlecht wäre, denn der Palast hat die Innentemperatur eines guten Kühlschranks. Warum, versteht man eigentlich nicht.

Ein Schweizer Chormitglied formuliert nach der Aufführung die Theorie, es sei der viele frei liegende Stahl, der das Gebäude fortwährend abkühle. Tatsächlich sind die dicken Stahlpfeiler kälter als die Luft. Wenn man sie mit dem Finger berührt, weil sie so schön wie alte Bäume aussehen, hat man Angst, vor Kälte festzukleben.

Die einzelnen Stationen des Baus werden nicht in billiger Sozialismusfolklore abgehandelt, sondern in einem Text, der merkwürdig zwischen den Zeiten und Systemen pendelt. Bei den Erbauern scheint eine Art muntere Verzweiflung über den eigenen Wagemut vorzuherrschen. In diesem Stadium des Baus wissen sie noch nicht einmal genau, wie hoch das Gebäude werden soll. „1.000 Tage Bauzeit ist nicht viel“ wiederholen sie kryptisch. Weil sie scheinbar jeden Tag damit rechnen, von der obersten Bauleitung neue Anweisungen für noch mehr Bauvolumen und Monumentalität zu erhalten, werden die Stahlpfeiler und Querträger wesentlich überdimensioniert.

Jetzt, im nackten Rohbau des Volkspalasts, scheint dieser verzweifelte Versuch, der Utopie voraus zu sein, in vielen Details gut sichtbar. Jeder wirtschaftlich arbeitende Ingenieur würde heute gefeuert bei solch sinnlosem Stahlverbrauch. Oder der Investor würde vorschlagen, noch vierzig Etagen aufzustocken. Das wäre überhaupt eine tolle Idee: nicht Abriss, sondern Errichtung eines abartig hohen Hochhauses.

Die Schwere des Hauses durch Überdimensionierung und letztliche Unbeherrschbarkeit des Gebäudesystems ist die deutsche Metapher schlechthin. Bei der Begehung des Kellers demonstrieren die Schauspieler anhand eines Aquariums, was passieren würde, wenn man den Pallazo di Prozzo (Udo Lindenberg) wirklich bis auf die Grundmauern abreißen würde. Es würde eine schreckliche Katastrophe geben, die halb Mitte verschlingen würde. Der Modelldom kracht jedenfalls eindrucksvoll zusammen, als Spree und Grundwasser in das Palastloch fließen.

Man sieht es bildlich vor sich: Wie der „Rückbau“ und Abtransport des Materials zu einer hübschen Katastropheninszenierung würde. Zwar wäre der Schrott bei den verdoppelten Schrottpreisen ein Riesengeschäft für Altstahlhändler, weil die Chinesen allen Stahlschrott der ganzen Welt brauchen und zu Höchstpreisen aufkaufen. Doch wenn der hauptstädtische unterirdische Wasserdruck höher wird als das Gewicht des Hauses, macht es plopp und eine riesige Fontäne überschwemmt Germany. Dann gibt’s gar keine Kindergartenplätze mehr.

Deshalb sieht der Plan des Rot-Grün-Regimes ja vor, den Schrott nicht mit Gewinn zu verkaufen und den Haushalt endlich auszugleichen, sondern allen Geschichtsmüll aus allen Landesteilen in dieses schwarze Loch zu werfen, zu deckeln und wie Atommüll für immer zu vergessen.

Zum feierlichen Schluss des Richtfestes erzählt Josef Bierbichler eine Geschichte von Karl Valentin: Da gab es einen Privatmann, dessen Haus irgendwie zusammengebrochen war und trotzdem noch steht; auch wenn alle Mietparteien ausgezogen sind, das Haus will einfach nicht verschwinden.

„Richtfest“, bis 1. 11. im Volkspalast, täglich 14 Uhr, am 26./28./30. und 1. 11. auch 20 Uhr