Betriebstemperatur

Die Reportage-Reihe „37°“ wird heute zehn Jahre alt. Das ZDF spendiert zum Geburtstag eine „lange Nacht“

Vielleicht könnte man sagen: Wenn „37°“ der Normalfall von Journalismus wäre, stünden Journalisten im gesellschaftlichen Ansehen wohl nicht kurz vor den Berufskillern.

Die Reihe „37°“ wird zehn Jahre alt, und die heutige Jubiläumsfolge vereinigt vieles, was sie ausmacht. Ein scheinbar außergewöhnlicher Mensch wird porträtiert: die Protagonistin, Alison Lapper, hat keine Arme und einen sehr kurzen Körper. Doch es geht weniger um die körperlichen als um die sozialen Probleme, die sie wegen ihrer Gliedmaßenfehlbildung hat. Denn eigentlich zeigt der Film ihr Leben, ihren kleinen Sohn, ihre Liebe, ihr einnehmendes Wesen; ganz nah, ganz persönlich.

Dabei dringt der Film nie unkontrolliert in ihre Privatsphäre vor – das beweist die Tatsache, dass Lapper nach dem ersten „37°“-Film über sie zu einer Fortsetzung bereit war. Und so kommt der Film ohne die Schwere und ohne den Voyeurismus aus, die das Thema Behinderung im Fernsehen oft belasten. „Alisons Baby: Die ersten Jahre“ ist so nah am Menschen, dass man – daher der Formattitel „37°“ – die Körpertemperatur fast fühlen kann; aber nicht so nah, dass er durch Scheinwerfer überhitzt.

Damit Menschen wie Lapper nicht in anderen ZDF-Formaten, deren Redakteure sich im Archiv bedienen, kontextlos verbraten werden, wird das Bildmaterial gesperrt – und wird so nur im Zusammenhang dessen gezeigt, in dem es gemacht ist: dienstags um 22.15 Uhr, bei „37°“.

Das Format hat mittlerweile 25 Preise eingefahren, darunter drei Grimme-Preise und ein Deutscher Fernsehpreis, gestern kam der Ravensburger Medienpreis dazu – und wird heute vom ZDF mit einer ganzen langen Sendeplatz bedacht: Nach „Alison Baby: Die ersten Jahre“ werden Lapper und andere Protagonisten der vergangenen zehn Jahre von Johannes Baptist Kerner interviewt, wobei die Spannung darin besteht, dass es noch nicht ganz sicher ist, ob der es schafft, so respektvoll zu agieren wie die „37°“-Macher.

Danach werden besondere Filme noch einmal ausgestrahlt; etwa über „Die Baumfrau“, die, um gegen die finanz- und machtpolitisch bedingte Redwood-Abholzung zu kämpfen, monatelang auf einem Baumriesen lebte, oder ein Film über Menschen, die zwanghaft Müll sammeln; eine Krankheit, die nach der Ausstrahlung von den Kassen als Krankheit anerkannt wurde. Manchmal bleibt „37°“ also nicht folgenlos.

Und manchmal schafft es die Reihe, dass wir plötzlich Menschen verstehen, die wir vorher nicht einmal eines Blickes würdigten: Das ist die große Kunst der Reportage. Viele solcher Formate gibt es nicht im deutschen Fernsehen. „37°“ darf gern weitere zehn Jahre alt werden.

KLAUS RAAB