Opfer größerer Umstände

Die Gewerkschaften, egal welche, können machen, was sie wollen: Man erkennt in ihnen nur Lifestyle-Verlierer und Nervensägen. Das liegt zunächst an den Arbeitnehmerorganisationen selbst

VON JAN FEDDERSEN

Die Zahlen sprechen ihre eigene Sprache: Mehr und mehr abhängig Beschäftigte treten aus jenen Organisationen aus, die ihre Interessen vertreten, den Gewerkschaften. Noch kurz nach der Wende durfte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sich mit zwölf Millionen Mitgliedern als größte gewerkschaftliche Dachorganisation Europas bezeichnen. Seither aber ging’s bergab. Mit der Erosion der deutschen Ökonomie als einer der industriellen Produktion und der Entwicklung von flexiblen Dienstleistungsbranchen segelte auch der DGB in eine Krise, von der er sich bislang nicht erholt.

Starke Mitgliederverluste

Einige Gewerkschaften verloren seither mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder – und das ist tragisch, denn tatsächlich wäre die so genannte soziale Marktwirtschaft nie so erfolgreich gewesen (und ist es noch), wenn nicht wesentlich die Gewerkschaften die Arbeiter- und Angestellteninteressen mit zur Geltung gebracht und sie auch mit durchgesetzt hätten. Ob Gesundheits- oder Arbeitszeitregelungen, oft mit Hilfe des mit der Mitgliedschaft erworbenen Anrechts auf Rechtsschutz in Fragen des Arbeitsrechts, ob in Lohn- und Tariffragen, gegen Willkür und Sklaverei: Ohne Gewerkschaften ähnelte Deutschland mehr jenem Bild von Manchesterkapitalismus als dem einer austarierten Ökonomie, in der auch Arbeiter und Angestellte die Chance auf ein besseres Leben haben können.

Trotzdem geben die Gewerkschaften ein mieses Bild ab – und das nicht erst, seit Sabine Christiansen Sonntag für Sonntag mit ihrer Talkshow die Republik in chronisch neoliberalen Alarmismus versetzt. Ob da Michael Sommer mit seinem unterwürfig-berlinischen Singsang etwas sagt oder Ursula Engelen-Kefer in die Runde schrillt: Stets bleibt ein Ton im Ohr, der den Eindruck von Besitzstandswahrern belebt. Meist fällt ihnen kaum mehr ein, als Nachfragestimulation zu fordern und jede Form von Modernisierung brüsk von sich zu weisen. Irgendwie wirken sie wie Darsteller von Gewerkschaftsbossen, die aber keine sind, weil sie nie etwas anderes gelernt haben als Talkshowpräsenz.

Und genau dafür können sie nichts, denn echte Gewerkschaftsführer wie in Großbritannien dereinst, Arthur Scargill beispielsweise, gibt es in Deutschland nicht mehr – die Loderers und Klunckers von heute sind eingebunden in Netzwerke des letztlichen Einvernehmens. Deshalb sehen sie aus wie alle ihre Opponenten – und reden, als schwitzten sie nie, als kennten sie Existenznot und Zukunftsangst nur vom Hörensagen. Ihre Aufwallungen wirken auswendig gelernt – und nicht gespeist aus Leidenschaft, sondern aus einem Bewusstsein der Siebzigerjahre. Damals war die sozialmarktwirtschaftliche (und damit gewerkschaftliche) Welt noch heil und die Gewerkschaften wohlgelitten.

Echte Wut? Fehlanzeige

Es sind so gestrige Figuren wie der Gemischtwarenladen Karstadt ein Konsummodell vergangener Tage ist. Sommer, Engelen-Kefer oder auch Frank Bsirske, Chef von Ver.di: Funktionäre ohne jenen Appeal, den der quasi wilde Streik vorige Woche in Bochum so angenehm verströmte. Den der wütenden Entschlossenheit nämlich, nicht einer, die zuvörderst nur Staatstransfers zu bewahren sucht.

Denn die Gewerkschaften verschweigen gern, dass ihre Interessen meist verschiedene sind. Die IG Metall vertritt Arbeiter, die meist reichlich Geld verdienen, Ver.di aber in seiner Einzelhandelssparte oft Frauen, bei denen es nicht um Vollzeitarbeitsplätze geht, sondern um Kindertagesstätten. Und was haben die Arbeitslosen von Gewerkschaften? Derzeit wenig: Ihnen wäre häufig überhaupt an Jobs gelegen – fast einerlei, wie gut sie entlohnt werden.

Die IG Metall veranstaltet seit gestern in Berlin einen Zukunftskongress. Bilanziert werden soll dort auch das „Arbeitnehmerbegehren für eine soziale Politik“. Die Bilanz fällt schlecht aus. Nur wenige nahmen an der Aktion teil, von Entrüstung über Rot-Grün keine Spur. Es kann alles noch schlimmer kommen – dabei werden Gewerkschaften dringender gebraucht denn je. Mit der Arbeiter-Einheitsfront aber ist es vorbei.