Tektonische Verschiebungen

Der US-Wahlkampf zeigt: In der Tagespolitik des Westens spielt Asien keine große Rolle. Dabei liegt hier die größte Herausforderung für dessen Wohlstand und dessen Sicherheit

Taiwans Trend zur Unabhängigkeit, der einen Krieg mit China denkbar macht, kann nur die USA stoppen

Bis Asien die weltpolitische Tagesordnung beherrscht, werden wohl noch einige US-Präsidenten ihr Amt wechseln. Dabei ist nicht der Terrorismus, der Irakkrieg oder der Nahostkonflikt das nachhaltig prägendste Kennzeichen unserer Zeit, sondern die unaufhaltsame Verschiebung der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gewichte von West nach Ost – von Europa und den USA nach Asien mit seinen aufsteigenden Mächten China und Indien und einem nach wie vor unterschätzten Japan. Prinzipiell wird diese Tendenz von den wenigsten bestritten. Auch haben die meisten Vorstände internationaler Großkonzerne auf sie reagiert. Der westlichen Tagespolitik aber fällt der Wandel der Weltbilder immer noch schwer.

Das beste Beispiel dafür ist der aktuelle Wahlkampf in den USA. Hier spielt Asien nur ganz am Rande eine Rolle: in der Antwort auf den Nordkoreakonflikt und in der Debatte um die Verlagerung amerikanischer Jobs ins Ausland (Outsourcing). Gerade in diesen Fragen aber gleichen sich die Positionen des Amtsinhabers und seines Herausforderers mehr, als im öffentlichen Gefecht erkennbar ist.

Im Kern befürworten sowohl George W. Bush als auch John Kerry den Verhandlungsweg, um Nordkorea zum Abbau seiner vermuteten Atomwaffen zu bewegen – bei allem Streit, ob bilaterale oder multilaterale Gespräche eher zum Erfolg führen. Genauso einig stehen beide Kandidaten für den Freihandel mit Asien, auch wenn John Kerry amerikanische Unternehmen höher besteuern will, die ihre Arbeitsplätze aus den USA nach Indien oder China verlagern. Gerade diese Einmütigkeit zwischen Republikanern und Demokraten aber deutet auf das Fehlen einer echten Auseinandersetzung mit dem Kontinent hin. Rückblickend wird man eines Tages vielleicht sagen, dass sich der von den USA geführte Westen nur deshalb in die Auseinandersetzung mit dem islamischen Fundamentalismus stürzte, weil er die für seinen Wohlstand – und damit für seine Sicherheit – viel größeren Herausforderungen im Fernen Osten verdrängen wollte.

Noch im Jahr 2000 schien die US-Politik ganz anders ausgerichtet. Damals konzentrierte sich der ganze außenpolitische Ehrgeiz der Neokonservativen um den neu gewählten Präsidenten Bush auf eine Neubewertung der chinesischen Herausforderung. Von der „strategischen Partnerschaft“ mit Peking, die Vorgänger Bill Clinton in die Welt gesetzt hatte, wurde das Verhältnis USA–China eiligst zu einer „Wettbewerbsbeziehung“ (Colin Powell) heruntergestuft.

Zugleich betonte Washington neue Pläne, in Japan, Südkorea und Taiwan regional begrenzte Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD) aufzubauen, die sich eindeutig gegen China richten würden. Als daraufhin im Frühjahr 2001 der damalige südkoreanischen Präsident Kim Dae Jung mit seiner Entspannungspolitik gegenüber Nordkorea in Washington eine öffentliche Abfuhr erhielt und Bush Taiwan ein großes Waffenpaket versprach, rüsteten sich Asiens Staatskanzleien bereits für einen Kalten Krieg im Fernen Osten. „Einflussreiche Kräfte in den USA glauben, China sei genauso gefährlich wie Deutschland im vergangenen Jahrhundert“, äußerte sich der pensionierte chinesische General Pan Zhenqiang seinerzeit gegenüber der taz.

Doch so unvermutet damals das große Konfliktszenario des 21. Jahrhunderts, West gegen Fernost, in den Köpfen auftauchte, so schnell war es nach dem 11. September wieder verschwunden. Insbesondere im Denken von George W. Bush, der in der Chinapolitik nicht zuletzt von seinem sinophilen Vater beraten wird, hat sich seither die Anerkennung der Volksrepublik als weltpolitischer Partner durchgesetzt. Bush legte damit den gleichen Weg zurück wie vor ihm Bill Clinton: vom scharfen Chinakritiker zum regelmäßigen Gesprächspartner des Pekinger Parteichefs. Das lässt sich auch als Erfolg chinesischer Außenpolitik begreifen. Nicht umsonst sieht das Berliner Auswärtige Amt heute in der „Akkomodierung der USA“ Pekings wichtigstes außenpolitisches Ziel.

In Washington aber lautet die Frage nun: Kann es der nächste US-Präsident beim Status quo in Asien belassen? Schon in der Nordkoreapolitik unterscheiden sich die strategischen Interessen in der Region beträchtlich: China will sich Pjöngjang als Bündnispartner erhalten, Südkorea strebt die Wiedervereinigung an, Japan sucht gegenüber einem erstarkten China und einem (in Zukunft vereinten) Korea nach größerer militärischer Unabhängigkeit. All diese Interessenkonflikte muss die US-Politik im Zaum halten, um ihre Vorherrschaft zu sichern.

Dabei wird es eine zentrale Aufgabe Washingtons sein, den schwelenden Großmachtstreit zwischen China und Japan zu moderieren. Allein gelassen, könnte in diesen Ländern auf beiden Seiten ein Nationalismus zum Ausbruch kommen, wie er die Beziehungen in Europa vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichnete. Die Einbindung sowohl Tokios als auch Pekings in die internationale Gemeinschaft aber liegt bei der Reform des Weltsicherheitsrats (Mitgliedschaft Japans) ebenso wie der Erweiterung der G-7-Gruppe (Mitgliedschaft Chinas) in der Hand des nächsten US-Präsidenten.

Nicht weniger aktuell bleibt die Taiwanfrage. Bush reagierte klug, als er im vergangenen Dezember den taiwanischen Präsidenten mit seinem Plan einer Volksabstimmung über das Verhältnis zur Volksrepublik zurückpfiff. Doch der Trend zur Unabhängigkeit in Taiwan, der einen Krieg mit China immer denkbarer werden lässt, ist ungebrochen. Nur der nächste US-Präsident kann ihn stoppen.

Ebenso wichtig wird sein Beitrag zur Lösung des Kaschmirkonflikts sein. Wobei an den drei ewigen Konfliktherden des aufsteigenden Asiens – Korea, Taiwan und Kaschmir – die Versuchung in Washington groß sein wird, das alte „divide et impera“ zwischen Japan und China bzw. Indien und Pakistan fortzuschreiben. Gerade diese Politik aber macht blind für das eigentlich Neue: die globale Machtverschiebung von West nach Ost.

In der Nordkorea-Frage tritt der Interessenkonflikt zwischen China, Japan und Südkorea zutage

Chinas und Indiens Aufstieg vorauszusetzen bedeutet dabei nicht, die Krisenanfälligkeit dieser Länder zu leugnen. Aber statt auf Krisen zu spekulieren, muss die westliche Politik den derzeitigen wirtschaftlichen Erfolg in Asien international einbinden und absichern helfen. Mit anderen Worten: die politischen Systeme aneinander anpassen, bevor sie sich gegeneinander wenden. Nur so lässt sich verhindern, dass künftige Krisen in Asien zum Konflikt führen.

Derzeit sieht Washington in der Asienpolitik noch keine Priorität. Der nächste US-Präsident wäre aber gut beraten, wenn er Asien größeres Gewicht verliehe. Oder, um es mit den Worten von James Hoge, dem Herausgeber der US-Zeitschrift Foreign Affairs zu sagen: „Viele im Westen sind sich heute der wachsenden Stärke Asiens bewusst. Aber das Bewusstsein führt nicht zur Bereitschaft, sich auf die neue Lage vorzubereiten.“ Das gilt bisher für Bush genauso wie für Kerry, von Europa ganz zu schweigen.

GEORG BLUME