Auf dem Parkplatz vergessen

Eine Senatsantwort auf SPD-Anfrage belegt Fälle von Kindern, die im vergangenen Jahr trotz staatlicher Betreuung Opfer von Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch und Gewalt geworden sind

Von Marco Carini

Papier ist bekanntlich geduldig. Und so ermöglicht die Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage des SPD-Sozialpolitikers Thomas Böwer bei dem fragenden Abgeordneten und der antwortenden Sozialbehörde zwei Interpretationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Was für Böwer „schockierend“ ist, ist für Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) nur ein Beweis für die „Qualität der Jugendhilfe“.

Die Fakten: Böwer hatte, ausgelöst durch den Hungertod der neun Monate alten Lara, deren Familie pädagogisch betreut wurde, nach weiteren „schweren Vorkommnissen“ bei pädagogisch betreuten Jugendlichen im vergangenen Jahr gefragt. Laut Senatsantwort, gab es 2008 290 solcher „besonderen Vorkommnisse“, mehr als jemals zuvor in den vergangenen acht Jahren. So verzeichnet die Statistik im Jahr 2002 nur 130 „Vorkommnisse“.

Das Problem: Unter dem Begriff verbergen sich die verschiedensten Ereignisse. Vom Brandausbruch, über Straftaten von Jugendlichen bis hin zu deren Misshandlung und Missbrauch. Deshalb, so räumt auch Böwer ein, sei die Rekordzahl von 2008 „mit Vorsicht zu genießen“.

Gänzlich auseinander aber geht die Bewertung bei der Aufschlüsselung von etwa 60 „besonderen Vorkommnissen“, die unter den Kategorien „Todesfall“, „Vernachlässigung“, „Körperverletzung“ und „Misshandlung“ statistisch aufgeführt werden. Danach wurden 2008 in 49 Fällen Kinder und Jugendliche, die unter dem Schutz sozialer Einrichtungen und sozialer Hilfen standen, misshandelt und missbraucht. Darunter finden sich zwölf Sexualdelikte von der sexuellen Nötigung bis hin zur Vergewaltigung. Die Opfer waren zwischen sechs und 17 Jahren alt.

Für Thomas Böwer sind diese Zahlen und acht nachgewiesene Vernachlässigungen betreuter Kinder der Beweis, „dass der Fall von Lara die Spitze des Eisbergs ist“. Sozialsenator Dietrich Wersich verweist hingegen darauf, dass es sich bei der Mehrzahl der aufgeführten „Vorkommnisse“ um Konflikte zwischen gleichaltrigen Jugendlichen und nicht um Fragen des Kinderschutzes handele. „Haareziehen, Treten, Schlagen, Raufen unter 16- und 17jährigen“, seien Auseinandersetzungen, die „gerade in der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen typisch“ seien. Dietrich Wersich wörtlich: „Wenn wir nur vorbildliche Jugendliche hätten, bräuchten wir keine Jugendhilfe mehr“.

Für Böwer aber ist, „jeder Fall der Misshandlung und Vernachlässigung eines Kindes, das unter staatlicher Obhut steht, ein Fall zu viel“. Deshalb müsse jedes Vorkommnis „durchleuchtet und transparent gemacht“ werden und aus den noch vorhandenen Defiziten die Konsequenzen gezogen werden.

Dabei verweist der SPD-Abgeordnete auf einen Fall, in dem ein staatlich bezahlter Pädagoge ein 12-jähriges Kind einfach auf einem Parkplatz zurückließ und gleich vier Fälle, in denen vom Jugendamt Altona betreute Kinder von ihren Aufsichtspersonen nur unzureichend angekleidet und mangelhaft beaufsichtigt wurden. Wersich will gegen solche Fälle vor allem juristisch vorgehen: „Soweit es sich um unangemessenes Verhalten von Betreuern handelt, werden entsprechende Konsequenzen veranlasst, die bis hin zur Strafverfolgung reichen“.

„Wir dürfen uns davon, dass wir ein teures Hilfesystem haben, nicht in trügerischer Sicherheit wiegen lassen“, fordert Böwer. Es ginge darum, „Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Pädagogen ihre knochenharte Arbeit fehlerfrei ausführen“ könnten. Um weitere Fehlerquellen zu erkennen, will der SPD-Sozialexperte jetzt auch die „besonderen Vorkommnisse“ der Jahre 2006, 2007 und des ersten Quartals 2009 von der Behörde aufschlüsseln lassen und genau unter die Lupe nehmen.

Danach müssten „die Konsequenzen“ aus den aufgetretenen Fällen gezogen werden, damit sich ein Fall wie der Hungertod Laras nicht wiederholen könne. Der Anwalt von Laras Betreuerin räumte am Montag ein, seiner Mandantin, sei ein „wechselhaftes Essverhalten“ des Säuglings bekannt gewesen. Da das Kind aber bei ihrer letzten Visite „mit Appetit gegessen habe“, hätte die Pädagogin die Anbahnung eines Kinderarztbesuches erst nach ihrem Urlaub angehen wollen. Lara war während des Urlaubs ihrer Betreuerin verstorben.