Der Engel fungiert als Filmvorführer

Acht Monate improvisierten der Regisseur Peter Lund und der Komponist Wolfgang Böhmer mit Studenten der Universität der Künste. So entstand „Leben ohne Chris“ – ein Musical über den Tod – für die Neuköllner Oper

Oh Mann, sind die alle jung! Und singen können sie! Tanzen auch; und spielen sowieso. So kann es also gehen, wenn man den Prozess des Castings einfach auslagert und verlegt in die Zulassungskommission für Studierende, oder wie die Stelle auch heißen mag, einer Hochschule. Alle Darsteller des Musicals „Leben ohne Chris“, das letzte Woche an der Neuköllner Oper seine Uraufführung erlebte, sind im dritten Studienjahr des Fachbereichs Musical an der Universität der Künste.

Regisseur und Autor Peter Lund, der den Neuköllnern schon zu manchem Erfolgsstück verholfen und „Leben ohne Chris“ sowohl inszeniert als auch geschrieben hat, hat die jungen Leute von seiner UdK-Lehrtätigkeit mitgebracht. Zuvor hatten er und Wolfgang Böhmer, der Komponist, acht Monate lang mit den Studenten über das Thema des entstehenden Stücks diskutiert und improvisiert. Das Thema: der Tod. Und das Leben danach sowie davor.

Nicht gerade typischer Musicalstoff, sollte man meinen. Doch dann ist man möglicherweise einem Zeitgeist aufgesessen, der davon ausgeht, dass die Gattung Musical ausschließlich zur Unterhaltung da sei. Eskapismus für die Massen eben. Aber wir lernen dazu: Da gibt’s noch mehr.

Da gibt es beispielsweise diesen jungen Mann. Er heißt Chris, ist gerade 18 geworden und zwei Tage danach mit dem Roller seiner Schwester gegen einen Baum gefahren. Sein Tod kommt nicht nur für ihn selbst, der trotz allem am weiteren Bühnengeschehen aktiv teilnimmt, sehr überraschend. Chris hinterlässt eine Schwester, einen Bruder, eine Freundin und eine Clique. (Die Existenz einer Elterngeneration blendet das Stück aus.) Während die Lebenden unter Schock stehen, muss auch Chris begreifen lernen, dass sein Leben vorbei ist.

Dabei wird ihm die Hilfe des Engels Michael zuteil. Mit kalkweißem Gesicht, in bubenhaften weißen Kniebundhosen und mit herabbaumelnden Hosenträgern, die an einen Teufelsschwanz gemahnen, ist der eine durchaus ambivalente Gestalt, und man versteht, dass Chris sich sträubt, sich von diesem undurchschaubaren Jenseitswesen in eine unbekannte Welt fortführen zu lassen. Erst mal von der alten Abschied nehmen!

Der Engel fungiert dabei als eine Art Zeremonienmeister, als Filmvorführer, der auf Wunsch („Warum wollen immer alle ihre Beerdigung sehen?“) die Szenen ablaufen lässt, die für Chris wichtig sind. Aber er greift auch gern in die Rückblenden ein, übernimmt selbst eine Rolle darin und hält sich mit eigenen Kommentaren überhaupt wenig zurück.

Zu kommentieren ist so einiges. Chris, wie sich allmählich herausstellt, war gar nicht mehr mit seiner Freundin zusammen, sondern hatte am Tag, bevor er starb, Schluss gemacht – weil er sich, und das erfahren die anderen aus der Clique erst Monate danach, in die Freundin seines Bruders verliebt hatte. Und hatte schwer daran zu beißen, dass sie lieber mit jenem „Langweiler“ zusammen sein wollte als mit ihm selbst.

Das Thema der unerfüllten beziehungsweise verbotenen Liebe macht den so plötzlich ums Leben gekommenen Draufgänger zu einer Hybridfigur irgendwo zwischen Werther und Romeo, durchsetzt mit einem ordentlichen Schuss „Halbstarken“-Charme, der durch die gewisse Ähnlichkeit des Chris-Darstellers Christopher Brose mit dem jungen Horst Buchholz (auch so ein Neuköllner) noch unterstrichen wird. Die Synthese gelingt, ebenso wie jene von Text und Musik, die zusammen erst die ganze Geschichte erzählen. Dazu gibt es großartig choreografierte Tanzeinlagen (Neva Howard); und auch Freunde des perfekt ausgesteuerten Sounds kommen auf ihre Kosten, denn für den sorgen an diesem Abend die Tonmeisterstudierenden der UdK.

KATHARINA GRANZIN

Nächste Vorstellungen: Sa., 9. 4. bis So., 12. 4., jeweils 20 Uhr