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Tanzen statt Fernsehen, Theater statt Schule

Bei No Limit tanzen Mädchen die Geschichte von Christiane F. Beim Zirkus Internationale lernen Jugendliche Rap und Breakdance. Insgesamt sechs solcher Projekte erhalten den Präventionspreis der Landeskommission gegen Gewalt

Christiane F. hat die Mädchen mitgerissen. Nicht ins Verderben. Vielmehr hat die Autorin von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sie rausgeholt aus ihrer Lethargie. Hat ihnen wieder Elan verpasst. Einen Anlass zum Tanzen gegeben. Christiane F. hat mit ihrem Buch die Vorlage für ein Tanztheaterstück geliefert. Und viele Vergewaltigungen verhindert. Ein Stück Gewaltprävention geleistet also.

Das hört sich alles sehr drastisch an. Und lässt sich nur verstehen, wenn man Doris Pauls Definition von Vergewaltigung kennt. Die schließt auch Fernsehen ein. „Sich berieseln lassen – das ist irgendwie wie sich vergewaltigen lassen“, sagt die Leiterin der Tanzwerkstatt No Limit. Sie muss das sagen. Ihre Werkstatt hat einen Preis gewonnen. Den Präventionspreis der Landeskommission gegen Gewalt. Heute, am Präventionstag, werden die Preise verliehen. Gleichzeitig diskutieren Experten über verschiedene Wege der Gewaltverhinderung.

Einer ist das Tanzen. Als die Mädchen in der Weißenseer Tanzwerkstatt No Limit zeitweise nichts mehr mit sich anzufangen wussten, haben sie sich mit Christiane F.’s Schicksal befasst. Haben Parallelen gezogen zu ihrem eigenen Leben. Haben darüber geredet, was sie unter Drogen verstehen. Ob nicht auch Fernsehen eine sei. Haben überhaupt viel geredet. Am Ende waren sie sich sicher, dass sie das Leben der Heroinabhängigen besser darstellen können, als das der Film tut. Mittlerweile haben sie das Tanzstück über „Menschen in Rauschzuständen“ etliche Male vor insgesamt etwa 3.000 Zuschauern aufgeführt. Dafür bekommt No Limit den ersten Präventionspreis.

Während es im Weißenseer Tanzzentrum immer friedlich zuging, fanden im Umfeld der Wedding-Grundschule handfeste Auseinandersetzungen statt. „Gewalt, Bandenkonflikte, Abzocke“, zählt Nöck Gail, der Koordinator des Projekts Zirkus Internationale auf. Nur alternative Beschäftigungsangebote schien es gerade für die Jüngeren kaum zu geben. Seit bei dem Zirkusprojekt gebreakt, gerappt, musiziert und Theater gespielt werden kann, kommen dorthin laut Gail „komischerweise“ vor allem die verhaltensauffälligen Kinder. Ganz freiwillig. Deren Eltern glaubten das oft gar nicht. So übernahm ein notorischer Schulschwänzer die Hauptrolle in „Emil und die Detektive“. Für die Proben wurde er ganz offiziell vom Unterricht befreit.

Auch andere Jugendliche werden so ihre überschüssigen Energien gewaltfrei los. Das freut gelegentlich die Geschwister. Die sagen dann: „Nach dem Training ist der immer so ausgeglichen. Da schlägt er uns gar nicht mehr“, erzählt Gail. Manche erteilen später sogar selbst Breakdance-Unterricht, werden zu Vorbildern und erleichtern Jüngeren den Einstieg. „Wenn die Kleinen sagen, ‚ey, der ist cool‘, kommen sie eher“, beobachtet Gail. Im Breaken und Tanzen sieht er einen wesentlichen Vorteil: „Die sprachlichen Schwächen treten zurück.“ Das Selbstbewusstsein tritt hervor. Der Zirkus Internationale erhält einen Sonderpreis.

Im Ganzen werden sechs Projekte prämiert. Drei von der Senatsverwaltung. Dazu drei firmengesponserte Sonderpreise. Bei der Bewertung zähle nicht zuletzt, sagt Thomas Härtel, sowohl Vorsitzender der Landeskommission gegen Gewalt als auch Staatssekretär für Bildung, Jugend und Sport, ob die Projekte langfristig angelegt seien. Über die Langlebigkeit wiederum entscheidet indirekt auch die Preisvergabe. „Wir haben nichts“, stellt etwa Doris Pauls fest. „Keine Sachmittel. Wir leben von Sponsoren.“ Da kommen 5.000 Euro Preisgeld gerade recht. Über etwaige weitere Förderung werde angesichts der Haushaltssperre erst noch beraten, so Pauls. Vom Preisgeld schafft No Limit vielleicht einen Fernseher an. JOHANNES GERNERT

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