Zu flach für die Fallhöhe

Das war Mitte (3): Wir versuchten uns an linksradikalen Ausgehmagazinen, spürten unsere Haarwurzeln, leckten beiläufig die Spiegel ab und jeansten die Straßen hinunter. Literatur über Mitte aber lasen wir keine. Weil man von uns nicht erzählen konnte

Mitte ist erst aus dem Abstand heraus beschreibbar geworden

von JÖRG SUNDERMEIER

Wir lebten auf Pump. Wir verprassten jetzt schon das Geld, das wir mit unseren Projekten morgen erst verdienen wollten. Wir tranken Sekt, nahmen Drogen, hatten Sex, feierten die Nächte durch, sammelten die Taxiquittungen und saßen dann ab dem Spätnachmittag zitternd im Büro und konnten uns nicht konzentrieren. Es war schön.

Wir gaben ein Ausgehmagazin heraus – wenn unsere Layouter sagten, es müsse, „damit die Fotos besser kommen“, in einer Qualität gedruckt werden, die sonst nur teure Modemagazine bieten, druckten wir in dieser Qualität. Irgendwann käme der Durchbruch, irgendwann käme ein Mäzen, irgendwann könnten wir das alles bezahlen. Wir berauschten uns gegenseitig, wir belächelten die Rechnungen, dann gingen wir schon wieder ins Café um die Ecke, in dem alles einen Preis hatte, der gestandene Düsseldorfer erstaunen konnte.

Weil wir uns für politisch sozialisiert hielten, versuchten wir uns an einem linksradikalen Ausgehmagazin, machten Witze über Deutschland und insbesondere Berlin, erlaubten uns, eine grenzenlose Verachtung für Fashion Victims zu demonstrieren und ein paar Seiten weiter Fotos von DJs in Herrenanzügen zu präsentieren, oder Platten zu empfehlen, über die wir nichts zu sagen wussten. Das Programm hieß irgendwann „Text no Text“, Verständlichkeit war uns zuwider, zu der von uns oft angekündigten Ausgabe in Italienisch ist es leider nicht mehr gekommen. Es war egal, was wir schrieben, denn was in den Clubs ging, wusste eh jede und jeder, was zu hören und zu kaufen war, erzählte man sich auf Partys, da kam unser Heft, hatte, zu seinen besten Zeiten, kaum noch eine verständliche Metapher in den Texten und erschien uns wunderschön.

Dann waren wir ruiniert. Selbst das bekümmerte uns nicht, eine Krise halt, dann wurde der nächste Verlag gegründet, ein Buchverlag diesmal. Und eine Werbeagentur zugleich, man kann’s ja.

Zuvor und danach lasen wir mit Erstaunen die Texte, die über Mitte produziert wurden. Die Erzählungen und Romane, deren Manuskripte uns angeboten wurden, die, über die das Feuilleton redete. In ihnen allen fand sich unsere Wirklichkeit nicht wieder. Nicht in der zarten Geschichte einer gefeierten Debütantin, deren Protagonisten in einem großen Theater auf einer Premierenparty koksten, auf abgelegenen Sofas Sex hatten und zynisch über das Leben redeten.

Wir redeten nicht über das Leben, sondern über lustige Seminare, zu teure Urlaube, neue Clubs, DJs, die wir für die großartigsten hielten und deren Namen wir kaum ein halbes Jahr später vergessen hatten, über Künstler, deren zur Schau gestelltes Künstlertum wir belustigt kommentierten, über so was. Was die Debütantin schrieb, hatte nichts zu tun mit der Geschichte von M., der sich auf der Heiner-Müller- Beerdigungsfeier betrank und einige Tage später, dem großen Dichter und Pragmatiker zu Ehren, die Whiskyflaschen und Zigarren vom Grab klaute, die Verehrer dort niedergelegt hatten. Davon wusste die Debütantin nichts oder sie wollte nicht darüber schreiben. Auch die Romane, in denen Kneipengenies geschildert wurden, verstanden wir nicht, sie klangen alle ein wenig nach Henscheid’schen Säuferromanen, wir redeten nicht in einem solchen Tonfall. Wir redeten nicht so, wie Literatur Leute reden lässt.

Es gab keine Bücher, in denen man lesen konnte, wie eine Gruppe von Leuten erst auf einer Geburtstagsparty, zu der die Hälfte der Anwesenden nicht geladen war, E einwarfen, sich dann daran berauschten, dass sie kuschlig wurden und fahrig und dass sie ihre Haarwurzeln spüren konnten, dann fuhr man zu einer Party, auf der berühmte eingeflogene DJ-Superstars auflegten, strebte an der Warteschlage vorbei, sagte „Gästeliste“, stolperte stundenlang durch die Clubs, lästerte übereinander, redete über Liebschaften, redete, redete, redete, zeigte wenig Abstraktionsvermögen, trank gegen den bitteren Geschmack auf der Zunge an, ging zusammen aufs Klo, war wichtig wie alle hier.

Und dann saß man plötzlich wieder dicht gedrängt zu fünft in einem Taxi, ein weiteres Taxi folgte, man fuhr zu einer Frau, die man kaum kannte, saß dort im Schlafzimmer, hörte eine CD, streichelte gemeinsam P., der auf dem Bett lag, auf dem man saß, lauschte der Geschichte, wie er gern seiner älteren Schwester verfallen wäre, merkte mit viel zu großen Augen, dass der Tag schon lang angebrochen war, leckte eher beiläufig den Spiegel ab, und dann, mitten in die traurige Erzählung von P. hinein, sagte jemand: „Air ist echt das Geilste.“

Wir lasen keine Mitte-Literatur, weil man von uns nicht erzählen konnte. Ich habe mit T. versucht, eine Anthologie zum Thema Geld anzubieten, ein Buch über dieses Verschwenden von Geld, dass man nicht hat. Die Verleger, die uns, denn „Mitte“ war immer ein Thema, eingeladen hatten, verstanden nicht recht, was wir wollten. Wir wussten, mussten wir erkennen, es auch nicht so genau. Ich hatte dann später noch die Idee zu einer Mitte-Anthologie, doch die – man wurde gern eingeladen – Verlegerin eines Großverlages sagte mir ins Gesicht: „Das ist langweilig. Das versteht der Leser nicht. Das sind keine Erzählungen, das sind Anekdoten. Dazu muss man kein Buch machen.“ Sie hatte Recht. Alle, die Mitte-Erzählungen ablieferten, und fast alle, die es noch tun, vergessen die Hegel’sche Feststellung: Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung. Was geschieht, kann nicht zugleich verstanden werden.

Das Berlin-Mitte der Neunzigerjahre ist erst aus dem Abstand heraus beschreibbar geworden. In den Neunzigerjahren selbst fand man mehr in den Plattenrezensionen der De:Bug über die Leute in Mitte ausgesagt als in einem ganzen Roman. Das machte und macht die vielen Mitte-Romane so langweilig. Sie sind bestenfalls von Selbstmitleid beseelt. Der autobiografische Bericht „Die Tickerlady“, einer Autorin namens „Nancy vom Bunker“, in welchem sie ihre Zeit als Drogenverkäuferin beschreibt, völlig naiv und beinahe unlektoriert, das war und ist wahr. In dem Satz von Anton Waldt: „Tom jeanste die Straße hinunter“, steckt mehr Wahrheit als in einer kompliziert aufgebauten Geschichte. Irgendwo hinunterjeansen, das war es, was wir damals getan haben.

Aus der viel beschworenen Mitte-Literatur konnte nichts werden. Die möglichen Protagonisten dieser Literatur hatten keine Geschichten zu bieten, schon gar keine Dramen. Es fehlte an Fallhöhe: Wir waren damals einfach zu flach.