Das Orgasmus-Stipendium

Liebeserklärung an einen Kontinent: Die französische Filmkomödie „Barcelona für ein Jahr“ von Cédric Klapesch

Cédric Klapisch ist das eigentliche Genie des französischen Kinos. Niemand sonst schreibt so präzise Dialoge, deren Genauigkeit dauernd in Komik umschlägt. Hinter der Lust an der Floskel steckt tiefe Menschenliebe. „Ich lerne Deutsch, um Goethe im Original zu lesen“, sagen manche Franzosen. „Ich lerne Französisch, um Klapisch im Original zu sehen“, müsste es für uns heißen. Doch sein Film „Un Air de Famille“, ein bitter-komisches Kammerspiel über die Abgründe einer Familie, ist in Deutschland nie ins Kino gekommen. „Jeder sucht sein Kätzchen“ war allein unter Frankophilen ein Erfolg. Nun kommt „L'Auberge Espagnole“ in unsere Kinos, nachdem der Film schon vor einem Jahr in Neuseeland lief. Wenn er jetzt hierzulande kein Erfolg wird, dann wandere ich aus.

Die Geschichte ist so einleuchtend, dass man sich fragt, warum dieser Stoff erst jetzt kommt. Ein französischer Wirtschaftsstudent hat durch seinen Vater einen Job in der EU in Aussicht. Dazu müsse er allerdings noch Spanisch lernen und „den spanischen Markt“ kennen. Also bewirbt er sich für einen Erasmus-Aufenthalt in Barcelona, ohne zu wissen, wer dieser „Erasmus“ eigentlich war. Wie Klapisch den lästigen, bürokratischen Hindernislauf als rasante Szene erzählt, spricht für seine Meisterschaft. Blaue Anzüge, Verwaltungschinesisch, endlose Gänge in Bürogebäuden – das ist die eine Realität Europas. Doch von hier ist es nur eine Flugreise weit ins komplette Gegenteil, das „Erasmüs“ heißt: Der Student verabschiedet sich für ein Jahr von seiner Freundin (Audrey Tautou) und landet mit Koffern und Taschen in Barcelona. „Erasmüs?“, fragt ihn am Flughafen ein französischer Mitreisender, verschwörerisch lächelnd: „Du wirst nicht viel studieren und auch nicht viel schlafen …“

Der Student gerät in eine gesamteuropäische WG. Das ist die andere Seite von Europa: das charmante Chaos. Wie viele junge Leute haben die gleiche Erfahrung gemacht, mit oder ohne „Erasmüs“? Ein europäischer Mikrokosmos, das Kauderwelsch muss man nur mitschreiben: „ ‚La fac‘ means University? You say: I go à la fuck?“

Der Student kommt tatsächlich nicht viel zum Studium, weil er plötzlich gleich mehrere Liebesgeschichten am Hals hat. Aber in Wirklichkeit lernt er natürlich viel mehr, als ihm die Universität bieten könnte. Irgendwann ist die erotische und sprachliche Verwirrung so groß, dass er nachts halluziniert. Plötzlich sitzt der rothaarige Erasmus an seinem Bett, der ihm das alles eingebrockt hat.

Es stimmt alles, die sinnlosen Diskussionen über Klischees: „Spanien ist mehr als Flamenco“, „Ihr Deutschen seid immer so ordentlich“, gemeinsam aus einer Bar torkeln und mit Lachkrämpfen in den Morgen fallen, wo ein Amerikaner „No woman, no cry“ spielt, während der Engländer in eine Ecke der Altstadt kotzt. Der Professor, der sich mit albernem Stolz weigert, den Erasmus-Studenten zuliebe Spanisch zu sprechen, schließlich sei man hier auf katalanischem Territorium. Die Entfremdung von der Mutter und der zu Hause wartenden Freundin. Die schreckliche Zeit vor der Abreise, wenn man sich zum letzten Mal gemeinsam betrinkt, in dem Wissen, dass man gehen muss, weil der Aufenthalt, der einem schon wie ein ganzes Leben erscheint, doch nur eine Episode sein kann.

Erfahrungen machen das Leben reicher, aber auch schmerzvoller. Vor allem Erfahrungen, die niemand teilt. Die Tristesse der Rückkehr, die sich in einem plumpen Steak bündelt, das die Mutter auftischt. Wie soll er ihr auf die Frage, wie es denn war, antworten? Sie hätte schon dabei sein müssen. Paris ist plötzlich so trist. Aber als er ein paar junge Ausländer in einem Café in Reiseführern blättern sieht, fragt er im Vorübergehen: „Erasmüs?“ und lächelt verschwörerisch.

Eine Liebeserklärung an diesen fantastischen Kontinent. Eine Aufforderung, seinen Lebensweg mit Erfahrungen zu verkomplizieren, durch die Begegnung mit dem Anderen immer mehr Identitäten anzunehmen. Bis man nicht mehr weiß, wer man ist, und wie der Held sagen kann: „Je suis l'Europe. Ma vie est un bordel.“

JOCHEN SCHMIDT

„L’Auberge Espagnole – Barcelona für ein Jahr“. Regie: Cédric Klapisch. Mit Romain Duris, Judith Godrèche u. a. Frankreich 2002, 122 Min.