Als Polizisten noch vor SS-Männern salutierten

Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau erinnert an den Auschwitz-Prozess. Das Verfahren holte den Holocaust ins Gedächtnis der Deutschen zurück

VON CHRISTIAN BERNDT

Die Zeugin konnte sich noch gut erinnern. Es brannte ein riesiges Feuer – und etwas wurde hineingeworfen. Als sie begriff, was es war, konnte sie nicht mehr hinsehen. Die Kinder, erzählten Mithäftlinge später, hatten noch gelebt, als man sie ins Feuer warf. Dieser Bericht von Ella Lingens stand 1964 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – für viele war es das erste Mal, dass sie so etwas zu lesen bekamen.

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess beendete das öffentliche Schweigen über den Holocaust. Vom 20. Dezember 1963 bis zum 20. August 1965 wurden im größten Mordprozess der deutschen Justizgeschichte 21 SS-Angehörige und ein „Funktionshäftling“ aus dem Vernichtungslager Auschwitz vor Gericht gestellt. 211 Überlebende wurden als Zeugen gehört. Wie dieser öffentliche Schock zu einem Wendepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte wurde, zeigt die Ausstellung „Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63“, die am Dienstag im Martin-Gropius-Bau eröffnet wurde.

Konzipiert vom Fritz Bauer Institut zum 40. Jahrestag des Prozesses, war sie erst im Frankfurter Bürgerhaus Gallus zu sehen, dem Originalschauplatz des Prozesses. Hier wirkte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, selbst Verfolgter des „Dritten Reiches“, der gegen den Widerstand großer Teile der Justiz den Prozess in Gang gebracht hatte.

Im Zentrum der Ausstellung sind sechs schwarze Räume aufgebaut, in denen Hörstationen und Schautafeln Aussagen von Angeklagten, Zeugen und Juristen dokumentieren. Was die Konfrontation von Tätern und Opfern in diesem Prozess bedeutete, davon bekommt man hier einen erschütternden Eindruck. Dounia Wasserstrom etwa schildert, wie SS-Oberscharführer Wilhelm Boger einen fünfjährigen Jungen an den Füßen packte und ihm mit einem Schlag an die Wand den Kopf zerschmetterte. Boger hatte einfach Appetit bekommen auf den Apfel, den der Junge in der Hand hielt. Nach dem Mord steckte er ihn ein. Geradezu grotesk stehen neben diesen Schilderungen die Täteraussagen.

Mörder verteidigen sich

Boger erinnert sich nicht daran, überhaupt jemanden getötet zu haben, und der Leiter der SS-Apotheke in Auschwitz Victor Capesius verteidigt die Selektionen an der Rampe, mit denen er entschied, wer arbeiten durfte und wer in die Gaskammer ging, mit dem Argument, er habe damit doch vielen Häftlingen das Leben gerettet.

Wie sich der Prozess auf die öffentliche Debatte auswirkte, wird im rezeptionsgeschichtlichen Teil der Ausstellung thematisiert. In der Presse waren es vor allem die Reportagen in der FAZ, die dem Prozess Aufmerksamkeit verschafften, allerdings erreichten sie nur einen Teil der Öffentlichkeit. Wie weit die Bevölkerung Anteil nahm, ist umstritten. Das Fernsehen berichtete kaum, die Zeitungen unterschiedlich. Über die Medienwirkung erfährt man in der Ausstellung, die sich eher auf den intellektuellen Diskurs konzentriert, leider nur Bruchstückhaftes. Einzelne Presseorgane sind in den Vitrinen ausgelegt, einen Überblick zur Medienrezeption kann man nicht gewinnen.

Auch die künstlerischen Arbeiten zum Thema, die in den „Räumen der Gegenwart“ gezeigt werden, sind nur teilweise gelungen, was allerdings auch an den beengten Räumen liegt. Raffiniert ist dagegen in ihrem Spiel mit der Brüchigkeit von Ikonografien die Installation von Loris Cecchini. Auf zwei Wänden zeigt er Fotos von Opfern und Tätern, deren schimmernde Oberfläche die Bilder immer wieder verschwinden lässt – je nach dem Blickwinkel, aus dem man schaut.

Die Urteile im Prozess fielen milde aus. Die Juristen konstruierten aus den meisten Tätern Mitläufer, und so konnte es geschehen, dass Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten, nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. Generalstaatsanwalt Bauer äußerte sich über den Ausgang enttäuscht, doch was er erreicht hatte, veränderte die Republik. Nach den Jahren der Verdrängung hatte der Prozess Auschwitz ins Gedächtnis der Deutschen zurückgeholt. Die Forderungen nach einem endgültigen Schlussstrich, wie sie in Umfragen 1963 noch 54 Prozent der Bevölkerung unterstützten, konnten sich nicht mehr durchsetzen.

Den Schmerz, den Richter Hans Hofmeyer in seinem Schlusswort zeigte, als er seine Tränen nicht zurückhalten konnte, vollzog die Öffentlichkeit aber noch nicht mit. Erst die Fernsehserie „Holocaust“ 1979 löste eine Bestürzung aus, die 1965 noch ausblieb, zu einer Zeit, in der mancher vor dem Gerichtssaal postierte Polizist vor den Angeklagten salutierte, wenn sie den Gerichtsaal betraten.

Bis 19. 12. 2004. Mi.–Mo. 10–20 Uhr. Eintritt: 4 €, erm. 3 €. Katalog 49,80 €, 872 S. Begleitend zur Ausstellung eine Vortragsreihe und Filmprogramm im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus.