Ein Mann, der nichts vergisst


Die Personalprobleme der SPD sieht er als Erbe der 68er: „Zu wenig Miteinander“

von BETTINA GAUS

Der Sprecher der Landesregierung von Rheinland-Pfalz steht auf der Treppe, die ins Restaurant führt, und sucht den Blick von Kurt Beck. Der schaut aber nicht her. Er bleibt vor dem Haus stehen, ganz ins Gespräch mit Umstehenden vertieft. Dabei hatte der Küchenchef schon vor zehn Minuten gemahnt, nun werde es wirklich Zeit. Das Essen droht zu verkochen, und an den Gastgeber ist einfach kein Herankommen. Er ist zu dicht umringt. Irgendwann wendet er doch mal den Kopf – und sieht seinen inzwischen erkennbar entnervten Mitarbeiter. Dessen Gesten sind unmissverständlich: nun aber fix. Der Gesichtsausdruck des Ministerpräsidenten ist ebenfalls eindeutig: schuldbewusst. Dann kommt er ganz schnell.

Vertrautheit und Vertrauen demonstrieren viele Politiker im Umgang mit ihren Untergebenen, schließlich eignet sich betonte Herzlichkeit gut zur Imagepflege. Aber eine Szene wie die vor dem Restaurant lässt sich nicht für die Galerie inszenieren. Sie setzt ein Verhältnis auf Augenhöhe voraus.

Einen „Facharbeiter für Leutseligkeit“ hat die Süddeutsche Zeitung den SPD-Landeschef einmal genannt. Leutselig? Nein, leutselig ist Kurt Beck nicht. Dafür bedarf es eines tief verwurzelten Gefühls der eigenen Überlegenheit und höheren Stellung. Das scheint der Ministerpräsident nicht entwickelt zu haben. Ist er also unsicher? Den Eindruck erweckt er auch nicht. Vielleicht verfügt er über eine seltene Fähigkeit: nämlich die Bedeutung seines Amtes nicht mit der Bedeutung seiner Person zu verwechseln. Wem das gelingt, der muss sich selbst nicht wichtiger nehmen als andere.

Andere Eigenschaften von Kurt Beck sind weniger erfreulich. Jähzornig und nachtragend soll er sein. Ja, aufbrausen könne er gelegentlich, räumt der 54-Jährige ein. Nachtragend sei er allerdings nicht: „Ich vergesse nichts, aber ich bin sehr schnell bereit zu verzeihen.“ Und dann erzählt er, wie er kürzlich einem CDU-Landtagsabgeordneten, der gerade als Bürgermeisterkandidat gescheitert war, eine böse Bemerkung über politische Abschiedsbesuche zurückgegeben hat, die ihm dieser vor acht Jahren zugerufen hatte. „Er war ziemlich betreten.“ Der Mann dürfte von der Versöhnungsbereitschaft seines Landesvaters so überzeugt nicht sein.

Andrea Nahles kommt aus demselben Landesverband wie der Ministerpräsident und ist mit ihm schon häufiger zusammengeprallt. „Kurt Beck ist ein ganz großer Harmoniemensch“, sagt die SPD-Linke. Darin sieht sie keinen Widerspruch zu seiner aufbrausenden Art. Im Gegenteil. Er ärgere sich ja gerade deshalb, weil er sich schwer damit tue, einen Konflikt einfach im Raum stehen zu lassen. Das häufig von Beck gezeichnete Bild eines besonders ruhigen und ausgeglichenen Menschen hält sie für völlig falsch: „Das ist ein Vulkan. Ein Buddha mit Sprengzündung.“ Es klingt fast liebevoll, wie sie das sagt. „Er kann sich noch echt aufregen, und er hat ein Gefühl für Integration.“ Viele andere in der SPD-Spitze wollten doch nur noch missionieren.

Wenn einer 1949 als Sohn eines Maurers in der katholischen Südpfalz geboren wurde und in jungen Jahren zur SPD gegangen ist, dann muss er die Fähigkeit zur Integration wohl entwickeln, will er nicht dauerhaft zum Außenseiter werden. „Mit seinem Hintergrund hätte er eigentlich bei der CDU landen müssen“, meint der rheinland-pfälzische Christdemokrat Heiner Geißler, der ihm bescheinigt, sich dennoch „immer sehr glaubwürdig als Südpfälzer präsentiert“ zu haben. Man muss vermutlich aus der Region stammen, um das erstaunlich zu finden.

Aber warum ist Beck denn eigentlich nicht bei der CDU gelandet? Die Frage könnte harmloser nicht sein. Gut geeignet für ein Gespräch in der Berliner Landesvertretung zwischen Kaffeetassen und Setzdeckchen. Ganz plötzlich wird die Atmosphäre kühler. Beck zieht sich zurück. Er habe „als Kind eine negative Erfahrung mit der Amtskirche gemacht“, sagt der Ministerpräsident. Der Satz ist erklärungsbedürftig. Die Erklärung wird geliefert. Reserviert, nüchtern. Ungern. Bis zur Pubertät habe er unter einer schweren Hautkrankheit gelitten, „die äußerlich entstellend war“. Im Dorf war es üblich, Messdiener zu werden. Kurt Beck wollte das auch gerne sein. Aber er durfte nicht. Nach Protesten von Eltern und Schülern, die behaupteten, Ansteckung zu fürchten, musste er die Gruppe verlassen. Er sei gläubiger Christ, aber zur Amtskirche habe er damals „wahrscheinlich eine innere Distanz aufgebaut“.

Eine grausame Geschichte. Er spürt das Entsetzen seines Gegenübers und wehrt ab: „Ich will da keine Schreckensstory daraus machen.“ Ein Klassenkamerad von ihm habe eine Hasenscharte gehabt: „Dem ging’s auch nicht besser.“ Schwacher Trost.

Kurt Beck wirkt routiniert in der Abwehr eigener und fremder Sentimentalitäten im Zusammenhang mit biografischen Verletzungen. Er dürfte viel Gelegenheit zur Übung gehabt haben. Die Bundesrepublik hat die Verwirklichung der Chancengleichheit ausgerufen. Beck scheint ein Beispiel dafür zu sein, dass man alles schaffen kann, wenn man nur begabt und zielstrebig genug ist: Seit fast einem Vierteljahrhundert sitzt er im Landtag, seit 1994 ist er Ministerpräsident. In wenigen Tagen wird er zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD gewählt werden.

Was für ein Aufstieg. Spürt er gelegentlich, dass ihm deshalb Bewunderung oder auch Herablassung entgegenschlägt? Er scheint nur die eine Hälfte der Frage überhaupt gehört zu haben. Überheblichkeit begegne ihm selten. Und wenn doch, „dann geht mir das irgendwo vorbei“. Es ist ihm zu wünschen, dass das stimmt. Denn diese Haltung ist ihm gegenüber so selten nicht, und sie wird geäußert. Zumindest hinter seinem Rücken.

Als „bodenständig“ wird Kurt Beck beschrieben, als redlich, aber geistig schlicht, und als intellektuellenfeindlich. Den Gipfel seiner Karriere habe er inzwischen erklommen, sagen viele Parteifreunde und Gegner übereinstimmend. Und meinen: erstaunlich, dass er überhaupt so weit gekommen ist. Erstaunlich, in der Tat. Hauptschule, Lehre als Elektromechaniker, Bundeswehr. Später Akkord, Abendschule, Realschulabschluss. Außerdem Gewerkschafter und Personalratsvorsitzender. Eine ehrenwerte Laufbahn. Aber nicht gerade der Stoff, aus dem eine bürgerliche Gesellschaft ihre Heldenlegenden strickt. Die schätzt das hochfahrend Elitäre.

Dass ihm bei „Alltagsfreuden“ eher Fußball als Literaturkritik einfällt, bestreitet der bekennende Anhänger des 1. FC Kaiserslautern nicht, der sich in Sitzungen schon mal telefonisch über Zwischenergebnisse eines Spiels informieren lässt. Na also. Passt doch. Was weniger gut passt, wird seltener erwähnt: dass er für den Bau neuer Hochschulen in Rheinland-Pfalz gesorgt hat. Dass er kulturelle Veranstaltungen vor allem in ländlichen Gebieten systematisch förderte. Er habe eben eine Begabung, gute Leute zu finden, heißt es dazu lakonisch. Als ob das eine Eigenschaft sei, die wenig zähle.

Kurt Beck gilt als langweilig. Kaum ein anderer Spitzenpolitiker hat sich so lange oben halten können, ohne die Öffentlichkeit mit Skandalen – politischen oder persönlichen – zu unterhalten. Er war mal für eine Anhebung der Mehrwertsteuer und mal gegen die TV-Sendung „Big Brother“. Unbeirrt koaliert er seit Jahren mit der FDP, und die Arbeitslosenstatistik sieht trotz struktureller Probleme der Schuh- und Textilindustrie günstiger aus als in den meisten anderen Regionen der Bundesrepublik.

In seinem Dorf durfte er nicht Messdiener sein, war er der Junge, den sie nicht wollten

Na und? Wer will das wissen? Zu Rheinland-Pfalz fällt den meisten Deutschen nach wie vor nur Helmut Kohl ein und einigen dann noch Rudolf Scharping. Den hat Beck als Ministerpräsident beerbt, und nun wird er ihm auch als SPD-Vize nachfolgen. So tief kann Scharping in der Gunst gar nicht fallen, dass Kurt Beck nicht immer noch irgendwie als sein Ziehkind gilt. Dabei hat er beachtliche eigene Wahlerfolge aufzuweisen und ausgerechnet in armen Gegenden mehr Stimmen geholt als sein Vorgänger.

Jetzt wird er also stellvertretender Vorsitzender der SPD werden. Ist das nicht vor allem ein Hinweis auf die arg dünne Personaldecke der Partei? Ist Kurt Beck einfach übrig geblieben? Er ist nicht der einzige Spitzenpolitiker ohne Abitur – manch andere, wie etwa der populäre Außenpolitiker Joschka Fischer, tragen ihre bildungsferne, wilde Vergangenheit wie eine Monstranz vor sich her. Aber kein anderer sagt auch als älterer, arrivierter Herr noch solche Sätze: Leute, die „nur zeigen wollen, wie viel Fremdwörter sie hintereinander aufzählen können, gehen mir auf die Nerven“. Das beeindrucke ihn gar nicht. „Ich brauche so ein Getue nicht.“ Sperriger kann man sich dem Normengerüst der Republik kaum verweigern.

Die Nachwuchsprobleme seiner Partei kennt auch Kurt Beck. Er führt sie auf das Erbe der 68er zurück: „Zu wenig menschliches Miteinander, zu viel Taktik. Zu schnelle Einordnung in Lager. Zu große Bereitschaft, herablassend übereinander zu reden.“ Das habe spätere Generationen abgeschreckt: „Viele von denen, die danach kamen, haben einfach aufgegeben.“

Er betont ausdrücklich, zu diesem Strang der Tradition keine eigene Bindung entwickelt zu haben. Die Hochzeit stand damals an und die Geburt des Sohnes. Mit dem Vater habe er „ein Häuschen gebaut, in dem wir auch heute noch leben“. Herausfordernd sagt er das. Als ob einer, der 1969 Funkelektroniker bei der Bundeswehr gewesen ist, verdächtig wäre, zur Studentenbewegung gehört zu haben.

Vielleicht ist ausgerechnet die Wahl eines ideologiefernen Pragmatikers der Beginn einer sozialdemokratischen Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln. Vielleicht auch nicht. „Es kommt auf den Einzelnen an“, sagt Beck, wann immer er sein Verhältnis zu einer Organisation – der Gewerkschaft, den möglichen Koalitionspartnern oder der eigenen Partei – definieren soll. Ist das der Individualismus der Moderne oder eine Erinnerung an die Prägung des katholischen Dorfes? Was es gewiss nicht ist: Klassenkampf. Das allerdings ist nicht gleichbedeutend mit einer Beliebigkeit der politischen Zielsetzung. „Gerechtigkeit“ sei das Allerwichtigste, meint Kurt Beck. Ohne zu zögern.