Radikal unabhängig

Klangforscher auf ewiger Pirsch nach dem Unerhörten: Der legendäre britische Radio-DJ John Peel ist tot

In diesem Fall war das Tal der Unwissenden mal nicht nur auf den Raum um Dresden herum beschränkt. Nein, im Westen war man womöglich gar weniger flächendeckend informiert als in der DDR. Denn dort zirkulierten in den Achtzigerjahren Kassetten, die wie Schätze gehütet und nahezu konspirativ abgespielt wurden auf Stern-Rekordern aus volkseigener Produktion. Auf ihnen war eine seltsam rasselnde, so gar nicht radiotaugliche Stimme zu hören – und vor allem: Musik. Aber nicht irgendwelche Musik, sondern abseitige und lärmige, atonale und durchgeknallte. Musik, die es oft genug nirgendwo sonst zu hören gab.

Zu dieser Zeit war diese Stimme längst eine Legende – selbst in der DDR-Subkultur. Auch wenn dort niemand wusste, dass der schnarrende Radio-DJ John Ravenscroft hieß und in den Sechzigerjahren von einem Schiff aus unter dem Decknamen „John Peel“ einen Piratensender betrieb.

Am Dienstag erlag Peel im Alter von 65 Jahren in Lima einem Herzinfarkt. Man kann davon ausgehen, dass er in Peru auf der Suche war nach Musik, denn das war Peel ein Leben lang: ein Klangforscher auf Pirsch nach dem Unerhörten. 40 Jahre lang hat Peel in seinen Sendungen stur gegen den Mainstream agiert: In den Sechzigerjahren legte er Experimentalrock auf, in den Siebzigern entdeckte er als einer der ersten Punk, später HipHop und elektronische Musik. Popmusik war für Peel immer mehr als nur Unterhaltung, war Einstellung, Aufklärung, war – auch wenn man damit bei seinem sich stets neutral gebenden Arbeitgeber BBC vorsichtig sein musste – Politik. So wurde er zur Kultfigur der Indie-Bewegung und seine Sendung über die Auslandsdienste der BBC weltweit bekannt.

Peel war bereits Antithese zum Formatradio, bevor das überhaupt erfunden war. Dem kleinsten gemeinsamen Nenner der modernen Radiolandschaft setzte Peel bis zuletzt eine radikale persönliche Herangehensweise entgegen, die für sendbar erklärte, was nicht jedem gefiel, was auch mal nichts taugte, was aber oft aufregend und interessant war. Bands wie The Fall oder The Smiths wären ohne ihn nur lokale Phänomene geblieben. Lange galt das Angebot, in den heiligen Hallen der BBC eine „Peel Session“ live einzuspielen, als Adelsschlag für eine Band.

Zudem setzte Peel dem britischen Selbstverständnis von der Pop-Großmacht einen internationalistischen Anspruch entgegen, der auch dafür sorgte, dass er im Ausland zusehends beliebter wurde als in seiner Heimat. Allerdings rückte die Welt immer näher zusammen. In Zeiten von Internet-Shops und -Radios musste man nicht mehr nach London fahren oder John Peel hören, um seltene Musik zu finden.

So verlor Peel seinen Status nach und nach, wenn auch nicht seinen legendären Ruf. Seine Sendung wurde zwar von immer weniger Stationen übernommen, sein Name aber stand weiterhin für eine selige Zeit des Radios. Denn Peel jagte unterschiedslos durch den Äther, was ihm gefiel: Wenige Major-Veröffentlichungen und viel Unabhängiges, aber auch immer wieder Vier-Spur-Bänder oder Demo-Kassetten. So radikal wie er wagte sonst niemand, die Indie-Idee im Radio umzusetzen. Nicht selten spielte Peel auch Musik, die in ihren, vor allem osteuropäischen Herkunftsländern nicht zu hören war; Musik, die über dunkle Kanäle den Weg in Peels legendären Archivkeller fand und über den Umweg BFBS dann doch wieder dort ankam, wo sie eigentlich verboten war.

Es war wohl dies, was Jenny Abramsky, BBC-Direktorin für Radio und Musik, nach dem überraschenden Tod von Peel als das „bemerkenswerte Verhältnis zu seinem Publikum“ bezeichnete. THOMAS WINKLER