Die eiligen Jagdgründe

New Mexico erlaubt einen Blick in Amerikas Zukunft. Weiße sind in diesem Bundesstaat bereits in der Minderheit

AUS ALBUQUERQUE MICHAEL STRECK

Gebt auf die Hunde Acht! Die Warnung erweist sich als begründet. Vor jedem Haus liegen sie sprungbereit im Sand, reißen zähnefletschend an der Leine oder springen bellend am Zaun empor. Die Ureinwohner von New Mexico mögen keine Eindringlinge. Wer sie besuchen will, abseits jener für Touristen hergerichteten Folkloreinseln, muss vorher beim Stammesältesten um Erlaubnis bitten, Kameras im Auto lassen und sich mit den Hunden arrangieren.

Anna Tsonlarakis und ihre Mitstreiterin Anathea Chino wissen sich bei den unberechenbaren Vierbeinern Respekt zu verschaffen und stapfen gemeinsam furchtlos durch die staubigen Straßen im Acoma-Reservat, eine Autostunde westlich von Albuquerque. Sie fallen auf zwischen den weit auseinander stehenden Häusern mit sandfarbenem Anstrich. Außer ihnen ist praktisch niemand auf der Straße.

In jeder Einfahrt funkeln Pick-up-Trucks oder Geländewagen in der Sonne, deren Wärme trügerisch ist, zu kalt ist bereits der Steppenwind Ende Oktober. Die beiden Frauen klemmen Infoblätter über die Präsidentschaftswahl an die Eingangstüren, beantworten Fragen und fordern die Bewohner auf, nächsten Dienstag zur Wahl zu gehen.

In New Mexico, wo Al Gore vor vier Jahren mit nur 366 Stimmen Vorsprung gewann, könnten die „Native Americans“ das Zünglein an der Waage sein. Hier stellen sie immerhin 10 Prozent der Bevölkerung. Und die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Ureinwohner stimmt traditionell für die Demokraten. Auch dieses Jahr haben sich die meisten Stämme offiziell für John Kerry ausgesprochen.

„Es geht schlicht darum, so viele wie möglich von uns zu mobilisieren“, sagt Anathea, die dem Stamm der Comanche angehört. Seit Wochen hilft sie gemeinsam mit Anna und anderen Freiwilligen der Gruppe American Indians for Opportunity, deren Ziel es ist, die politische Mitsprache der Ureinwohner zu fördern.

An diesem Nachmittag öffnen nur wenige die Tür. Misstrauisch sind manche Blicke. Auf längere Gespräche lässt sich kaum jemand ein. „Die Apathie ist oft enorm“, sagt Anathea. Rasch haben sie die Siedlung durchkämmt. Anschließend geht es mit dem Jeep ins nächste Reservat, durch karge Hochlandebenen, vorbei an schroffen, roten Felsformationen und zahlreichen Casinos. Es ist wie ein Lotteriespiel, sagt Anathea. Der Einsatz ist hoch, das Resultat völlig offen.

Trotz der Ignoranz, die ihnen entgegenschlägt, betont Anna, dass man diese Erlebnisse nicht verallgemeinern dürfe. Kultur, Wohlstand und politisches Bewusstsein der Stämme seien zu unterschiedlich. 19 leben allein in New Mexico und über 500 in den USA. Sie selbst gehört zu den Navajo, einem Stamm, der von den Comanche so verschieden ist, wie Italiener von Usbeken. Er gilt zwar als Vorzeigebeispiel für wirtschaftliche Erfolge und Selbstverwaltung. Doch auch in ihrem Reservat verfügt nicht einmal die Hälfte der Haushalte über Strom, leben zwei Drittel unter der Armutsgrenze, und ihre Großeltern verdienen nicht mehr als 100 Dollar im Monat. „Dennoch gehören wir zu den reichsten Stämmen in diesem Land.“

Anna ist die Erste aus ihrer Familie, die ausgebrochen ist, eine höhere Schule besucht hat und nun außerhalb des Reservates lebt. Sie hatte Glück, einen verständnisvollen Vater und den unbändigen Willen, es zu schaffen. Sie bewarb sich an der Eliteuni Yale und wurde zugelassen. Heute arbeitet sie als Lehrerin und Künstlerin in Albuquerque.

Sie sieht sich als moderne Navajo-Indianerin, eine Hybride, die in der Welt ihres Stammes und im großstädtischen Amerika zu Hause ist. Sie beklagt sich, dass viele Amerikaner immer noch ein überwiegend folkloristisches Bild von den Ureinwohnern hätten. Doch daran seien ihre Landsleute zum Teil selbst schuld. „Wir sind einfach stehen geblieben und haben nicht genug getan, um mit den Stereotypen aufzuräumen.“

Die jüngere Geschichte der USA habe gezeigt, dass Autonomie der Schlüssel zum Erfolg für die meisten Stämme ist, sagt Anna. „Die Abhängigkeit von der Regierung hat uns nur handlungsunfähig gemacht.“ Anna hat diese Ärmel-hochkrempel-Mentalität und den festen Glauben, dass jeder weitgehend für sich selbst verantwortlich ist. Darum fühlt sie sich eigentlich den Republikanern näher. Dennoch wird sie für Kerry stimmen. Sie findet seine Steuerpläne einfach fairer, außerdem will er den „schändlichen“ Patriot Act, jenes weitreichende Ermächtigungsgesetz für US-Fahnder, überdenken. Und anders als Bush verstehe Kerry, dass Indianer nicht einfach Minderheiten, sondern souveräne Völker sind.

Natürlich hofieren beide Parteien die Ureinwohner in ihren Wahlprogrammen. Und auf Wahlkampfveranstaltungen wie jener an der University of New Mexico an diesem Montag. Republikaner und Demokraten werben mit wohlfeilen Worten um die Gunst der kleinen Schar von Interessierten.

Laura Harris, eine Comanche, die Kerry in indigenen Fragen berät, verspricht mehr Geld für Infrastrukturprojekte und einen eigenen Kabinettsposten für Indianerangelegenheiten im Weißen Haus. John Gonzalez, ein Indianer, der für die Republikaner in den Senat will, hat dagegen einen schweren Stand. Bush hat einige Stämme in dieser Gegend verärgert, da er auf ihrem Territorium ungefragt nach Öl bohren will. Doch so schnell gibt Gonzalez nicht auf. Und darum versucht er, die Leute mit den gleichen Argumenten wie Anna Tsonlarakis davon zu überzeugen, dass sich „Native Americans“ den Konservativen anvertrauen sollten.

Im Saal wird dennoch sehr rasch deutlich, dass die Demokraten nach wie vor als Partei der kleinen Leute und Benachteiligten punkten können. Viele Ureinwohner erwarten von der Regierung in Washington, ihre Not zu lindern, als Akt historischer Wiedergutmachung.

Der wundeste Punkt ist jedoch auch hier der Irakkrieg. Fast jeder kennt jemanden in der Armee, der im Irak stationiert ist, darauf wartet, abkommandiert zu werden, oder dort ums Leben kam. Doch das ist nicht alles: Aufgrund ihrer eigenen Geschichte sympathisieren viele Natives sogar mit den Aufständischen im Irak. „Wir können nun einmal nicht akzeptieren, okkupiert zu sein“, sagte ein junger Mann.

Doch die Gräben zwischen Harris und Gonzalez scheinen weniger tief, als es derzeit sonst zwischen Anhängern der Parteien zu beobachten. Beiden geht es in erster Linie darum, Indianer zur Stimmabgabe zu bewegen, sie zu ermutigen, sich für politische Ämter zu bewerben. „Was momentan zählt, ist Mitbestimmung“, sagt der junge Mann. So sind sie zuerst Indianer, dann Demokraten oder Republikaner.

Die drängendsten Probleme der Indianer sind jedoch nicht exklusiv. New Mexico, Rückzugsgebiet alternder Hippies in Santa Fe, Heimat der ersten Atombombe, ist der zweit ärmste Bundesstaat nach Mississippi. Die öffentlichen Schulen haben den schlechtesten Ruf im Land. Menschen mit Krankenversicherung sind hier so selten wie Regen. Und im Süden toben nach langer Trockenheit Wasserkriege zwischen Kommunen, Farmern und Ureinwohnern.

Von vielen Amerikanern wird New Mexico geografisch regelmäßig dem südlichen Nachbarn Mexico zugeschlagen. Und wer einmal durch die Innenstadt von Albuquerque schlendert, könnte meinen, sie hätten mit dieser Verortung tatsächlich Recht. Der ganze Bundesstaat erlaubt nämlich einen Blick in Amerikas Zukunft. Weiße sind hier bereits in der Minderheit. Neben den zehn Prozent Indianern sind es vor allem die 42 Prozent „Hispanics“, die ins Augen fallen.

Doch New Mexicos Latino-Situation unterscheidet sich von der im restlichen Land – auch hinsichtlich des Wahlverhaltens. Hier leben weniger junge Einwanderer als in Kalifornien oder Texas, sondern vor allem Nachfahren spanischer Siedler, die sich in dieser Region der Neuen Welt bereits vor mehreren Generationen niederließen. Sie sind politisch aktiver. Traditionell stimmen sie im Verhältnis 2:1 für die Demokraten.

Doch nach Ansicht von Miquel Solis zeichnet sich ein Wandel ab. Der Geschäftsmann und überzeugte Republikaner, der die Bush-Cheney-Kampagne in Albuquerque mit koordiniert, glaubt, dass Bush unter den Hispanics Boden gutgemacht hat. „Er ist sehr populär, nicht nur in Texas.“ Joe Rodriguez, ein Lehrer, der nach Feierabend im Kerry-Hauptquartier mitackert, bestreitet das natürlich vehement. Er beobachtet, dass vor allem der Irakkrieg Bushs Ansehen schwer geschadet hat: Überproportional viele Latinos kämpften im Irak und wurden getötet.

Solis und Rodriguez veranschaulichen sehr deutlich, dass die Gruppe der Hispanics auseinander driftet. Die alteingesessenen, wohlhabenden Familien und Unternehmer wechseln nach und nach zu den Republikanern. „Wir sind nicht länger Wanderarbeiter oder auf staatliche Hilfe angewiesen“, sagt Solis. Ihn interessieren viel mehr niedrige Steuern und Deregulierung. Er gesteht jedoch mit einem etwas ratlosen Lächeln, dass in seiner Familie fast alle die Demokraten wählen.

Das könnte mit Bill Richardson zu tun haben. Der Gouverneur, Sohn einer Mexikanerin und ehemaliger Energieminister unter Präsident Clinton, ist so populär wie Bushs Bruder Jeb in Florida. Er schlägt die Konservativen mit ihren eigenen Waffen. Er senkte die Steuern und begann, das marode Schulsystem zu reformieren. Zudem umgarnt er die Ureinwohner, gab ihnen Posten in der Regierung und versprach, ihre lukrative Kasinowirtschaft weiter zu fördern. Sie ist mittlerweile der drittwichtigste Arbeitgeber im gesamten Bundesstaat.

Sollte Bush gewinnen, hat Anna Tsonlarakis einen persönlichen Plan B. Vielleicht wandert sie nach Kreta aus. Ihr Ururgroßvater war Grieche. Zweimal hat sie die Insel schon besucht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so wohl gefühlt wie dort. „Wir Navajo sind Nomaden. Warum soll ich nicht mein Zelt auf einer Insel aufschlagen?“